Franz Kafka von neuem gewürdigt (Wandlung, 1945-1946) Franz Kafka (Sechs Essays, 1948) Franz Kafka von neuem gewürdigt (Radiovortrag, 1948)
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Franz Kafka, von neuem gewürdigt1
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Franz Kafka, von neuem gewürdigt.1
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Vor gut zwanzig Jahren, im1 Sommer 1924, starb Franz Kafka im Alter von 44 Jahren. Während der folgenden Jahre wuchs sein Ruf ständig in Deutschland und Österreich, seit 1930 auch in Frankreich, England und Amerika. Merkwürdigerweise stimmen seine Bewunderer in diesen Ländern trotz starker Uneinigkeit über den eigentlichen Sinn seines Werkes in einem wesentlichen Punkte überein: alle sind betroffen von dem Neuartigen seiner Erzählerkunst, von etwas spezifisch Modernem, das sonst nirgends in der gleichen Stärke und Unzweideutigkeit erscheint. Dies ist erstaunlich, da Kafka - in auffälligem Gegensatz zu anderen Lieblingsschriftstellern der Intellektuellen - keinerlei technische Experimente vornahm.2 Ohne die deutsche Sprache in irgendeiner Weise zu verändern, entkleidete er sie ihrer verwickelten Satzkonstruktionen, bis sie klar und einfach wurde wie die Umgangssprache, wenn sie von Nachlässigkeiten und Jargon gereinigt ist. Die Einfachheit und mühelose Natürlichkeit seiner Sprache mögen darauf hinweisen, daß3 Kafkas Modernität und die Schwierigkeit seines Werkes wenig mit jener modernen Komplikation des inneren Le |Arendt-III-011-00000002 bens zu tun haben, die immer auf der Suche nach neuen und einmaligen Techniken ist, um neue und einmalige Gefühle auszudrücken. Das gemeinsame Erlebnis der Leser Kafkas ist eine allgemeine, unbestimmbare Bezauberung, sogar bei Erzählungen, die sie nicht verstehen, eine klare Erinnerung an merkwürdige und scheinbar unsinnige Bilder und Beschreibungen, -4 bis sich ihnen eines Tages der verborgene Sinn mit der plötzlichen Deutlichkeit einer einfachen und unangreifbaren Wahrheit enthüllt.
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Im1 Sommer 1924, starb Franz Kafka im Alter von 44 Jahren. Während der folgenden Jahre wuchs sein Ruf ständig in Deutschland und Österreich, seit 1930 auch in Frankreich, England und Amerika. Merkwürdigerweise stimmen seine Bewunderer in diesen Ländern trotz starker Uneinigkeit über den eigentlichen Sinn seines Werkes in einem wesentlichen Punkte überein: alle sind betroffen von dem Neuartigen seiner Erzählerkunst, von etwas spezifisch Modernem, das sonst nirgends in der gleichen Stärke und Unzweideutigkeit erscheint. Ohne die deutsche Sprache in irgendeiner Weise zu verändern, entkleidete er sie ihrer verwickelten Satzkonstruktionen, bis sie klar und einfach wurde wie die Umgangssprache, wenn sie von Nachlässigkeiten und Jargon gereinigt ist. Die Einfachheit und mühelose Natürlichkeit seiner Sprache mögen darauf hinweisen, dass3 Kafkas Modernität und die Schwierigkeit seines Werkes wenig mit jener modernen Komplikation des inneren Lebens zu tun haben, die immer auf der Suche nach neuen und einmaligen Techniken ist, um neue und einmalige Gefühle auszudrücken. Das gemeinsame Erlebnis der Leser Kafkas ist eine allgemeine, unbestimmbare Bezauberung, sogar bei Erzählungen, die sie nicht verstehen, eine klare Erinnerung an merkwürdige und scheinbar unsinnige Bilder und Beschreibungen, 4 bis sich ihnen eines Tages der verborgene Sinn mit der plötzlichen Deutlichkeit einer einfachen und unangreifbaren Wahrheit enthüllt.
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Franz Kafka
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Als Franz Kafka, ein Jude deutscher Sprache aus Prag, einundvierzigjährig im Sommer des Jahres 1924 an der Schwindsucht starb, war sein Werk nur einem kleinen Kreis von Schriftstellern und einem noch kleineren Kreis von Lesern bekannt. Seither ist sein Ruf langsam und stetig gewachsen; in den zwanziger Jahren war er bereits einer der wichtigsten Autoren der Avantgarde in Deutschland und Österreich; in den dreißiger und vierziger Jahren erreichte sein Werk genau die gleichen Leser- und Schriftstellerschichten in Frankreich, England und Amerika. Die spezifische Qualität seines Ruhmes änderte sich in |Arendt-III-001-00000127 keinem Lande und in keinem Jahrzehnt: immer wieder stand die Auflagenhöhe seiner Werke in keinem Verhältnis zu der immer noch anwachsenden Literatur über ihn oder zu dem immer noch sich vertiefenden und verbreiternden Einfluß, den dieses Werk auf die Schriftsteller der Zeit ausübt. Es ist durchaus charakteristisch für die Wirkung der Kafkaschen Prosa, daß die verschiedensten »Schulen« ihn für sich in Anspruch zu nehmen suchen; es ist, als ob niemand, der sich für »modern« hält, an diesem Werke vorbeigehen könnte, weil hier so offenbar etwas spezifisch Neues am Werk ist, das nirgendwo sonst in der gleichen Intensität und mit der gleichen rücksichtslosen Einfachheit bisher zu Tage getreten ist.
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Dies ist sehr überraschend, weil Kafka im Gegensatz zu anderen modernen Autoren sich von allen Experimenten und allen Manierismen fern gehalten hat. Seine Sprache ist klar und einfach wie die Sprache des Alltags, nur gereinigt von Nachlässigkeit und Jargon. Zu der unendlichen Vielfalt möglicher Sprachstile verhält sich das Kafkasche Deutsch wie Wasser sich verhält zu der unendlichen Vielfalt möglicher Getränke. Seine Prosa scheint durch nichts Besonderes ausgezeichnet, sie ist nirgends in sich selbst bezaubernd oder betörend; sie ist vielmehr reinste Mitteilung und ihr einziges Charakteristikum ist, daß - sieht man genauer zu - es sich immer wieder herausstellt, daß man dies Mitgeteilte einfacher und klarer und kürzer keinesfalls hätte mitteilen können. Der Mangel an Manieriertheit ist hier fast bis an die Grenze der Stillosigkeit, der Mangel an Verliebtheit in Worte als solche fast bis an die Grenze der Kälte getrieben. Kafka kennt keine Lieblingsworte, keine bevorzugten syntaktischen Konstruktionen. Das Resultat ist eine neue Art der Vollkommenheit, die von allen Stilen der Vergangenheit gleich weit entfernt zu sein scheint.
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Es gibt in der Geschichte der Literatur kaum ein überzeugenderes Beispiel für die Verkehrtheit der Theorie vom »verkannten Genie« als die Tatsache des Kafkaschen Ruhmes. In diesem Werk gibt es nicht eine Zeile |Arendt-III-001-00000128 und nicht eine einzige Geschichts-Konstruktion, die dem Leser, so wie er sich im Verlauf des vorigen Jahrhunderts herausgebildet hat, in seiner Suche nach »Unterhaltung und Belehrung« (Broch) entgegenkäme. Das einzige, was den Leser in Kafkas Werk lockt und verlockt, ist die Wahrheit selbst, und diese Verlockung ist Kafka in seiner stil-losen Vollkommenheit -- jeder »Stil« würde durch seinen eigenen Zauber von der Wahrheit ablenken -- bis zu dem unglaublichen Grade geglückt, daß seine Geschichten auch dann in Bann schlagen, wenn der Leser ihren eigentlichen Wahrheitsgehalt erst einmal nicht begreift. Kafkas eigentliche Kunst besteht darin, daß der Leser eine unbestimmte, vage Faszination, die sich mit der unausweichlich klaren Erinnerung an bestimmte, erst scheinbar sinnlose Bilder und Begebenheiten paart, so lange aushält und sie so entscheidend in sein Leben mitnimmt, daß ihm irgendwann einmal, auf Grund irgendeiner Erfahrung plötzlich die wahre Bedeutung der Geschichte sich enthüllt mit der zwingenden Leuchtkraft der Evidenz.
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Beginnen wir mit dem Roman1 Der Prozeß2, über den eine kleine Bibliothek von Auslegungen veröffentlicht worden ist. Es4 ist die Geschichte eines5 Mannes, dem der8 Prozeß gemacht wird nach Gesetzen, die er nicht entdecken kann11, und der schließlich hingerichtet wird, ohne daß er herausfinden konnte12, um was13 es sich dabei handelte14. Auf der Suche nach dem wahren Grund seiner Qual erfährt15 er, daß dahinter17 »eine große Organisation sich befindet. Eine Organisation, die nicht nur bestechliche Wächter, läppische Aufseher und Untersuchungsrichter ...18 beschäftigt, sondern die weiterhin jedenfalls eine Richterschaft hohen und höchsten Grades unterhält, mit dem zahllosen, unumgänglichen Gefolge von Dienern, Schreibern, Gendarmen und andern19 Hilfskräften, vielleicht sogar Henkern ....20«
Der Prozeß2, über den eine kleine Bibliothek von Auslegungen in den zwei Jahrzehnten, die seit seinem Erscheinen verstrichen sind,3 veröffentlicht worden ist,4 ist die Geschichte des5 Mannes K.6, der angeklagt ist, ohne zu wissen, was er getan hat,7 dem ein8 Prozeß gemacht wird, ohne daß er herausfinden kann,9 nach welchen10 Gesetzen der Prozeß und das Urteil gehandhabt werden11, und der schließlich hingerichtet wird, ohne je erfahren zu haben12, worum13 es sich eigentlich gehandelt hat14. Auf der Suche nach dem wahren Grund dieser Begebenheit findet15 er erst einmal heraus16, daß hinter seiner Verhaftung17 »eine große Organisation sich befindet. Eine Organisation, die nicht nur bestechliche Wächter, läppische Aufseher und Untersuchungsrichter, die günstigsten Falles bescheiden sind,18 beschäftigt, sondern die weiterhin jedenfalls eine Richterschaft hohen und höchsten Grades unterhält, mit |Arendt-III-001-00000129 dem zahllosen, unumgänglichen Gefolge von Dienern, Schreibern, Gendarmen und anderen19 Hilfskräften, vielleicht sogar Henkern... Und der Sinn dieser großen Organisation...? Er besteht darin, daß unschuldige Personen verhaftet werden und gegen sie ein sinnloses und meistens, wie in meinem Fall, ergebnisloses Verfahren eingeleitet wird20«.21
Beginnen wir mit dem Roman »1Der Prozess«2, über den eine kleine Bibliothek von Auslegungen veröffentlicht worden ist. Es4 ist die Geschichte eines5 Mannes, dem der8 Prozeß gemacht wird nach Gesetzen, die er nicht entdecken kann11, und der schließlich hingerichtet wird, ohne daß er herausfinden konnte12, um was13 es sich dabei handelte14. Auf der Suche nach dem wahren Grund seiner Qual erfährt15 er, daß dahinter17 »eine große Organisation sich befindet. Eine Organisation, die nicht nur bestechliche Wächter, läppische Aufseher und Untersuchungsrichter – ...18 beschäftigt, sondern die weiterhin jedenfalls eine Richterschaft hohen und höchsten Grades unterhält, mit dem zahllosen, unumgänglichen Gefolge von Dienern, Schreibern, Gendarmen und andern19 Hilfskräften, vielleicht sogar Henkern...«
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Als K. merkt, daß solche Verfahren trotz ihrer Sinnlosigkeit nicht unbedingt ergebnislos zu verlaufen brauchen, nimmt er sich einen Rechtsanwalt, der ihm in langen Reden auseinandersetzt, auf welche Weise man sich den bestehenden Zuständen anpassen kann und wie unvernünftig es sei, sie zu kritisieren. K., der sich nicht fügen will und seinen Advokaten entläßt, trifft mit dem Gefängnisgeistlichen zusammen, der ihm die verborgene Größe des Systems predigt und ihm anrät, nicht mehr nach der Wahrheit zu fragen, denn »man muß nicht alles für wahr halten, man muß es nur für notwendig halten«. Mit anderen Worten, wenn der Advokat sich nur bemühte zu demonstrieren: So ist die Welt, hat der von dieser Welt angestellte Geistliche die Aufgabe zu erweisen: Dies ist die Weltordnung. Und da K. dies für eine »trübselige Meinung« hält und erwidert: »Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht«, ist es klar, daß er seinen Prozeß verlieren wird; da andererseits dies nicht »sein Endurteil« war und er versuchte, die »ungewohnten Gedankengänge« als »unwirkliche Dinge«, die ihn im Grunde nichts angingen, abzuweisen, verliert er nicht nur den Prozeß, sondern verliert ihn auf eine schmähliche Weise, so daß er schließlich der Hinrichtung nichts entgegenzusetzen hat als seine Scham.
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Die Macht der Maschine, die K. ergreift und umbringt, ist nichts anderes als Schein der Notwendigkeit, der sich realisieren kann durch die Bewunderung der Menschen für Notwendigkeit. Die Maschine kommt in Gang, weil Notwendigkeit für etwas Erhabenes gehalten wird und weil ihr Automatismus, der nur von Willkür unterbrochen wird, für das Sinnbild der Notwendigkeit |Arendt-III-001-00000130 genommen wird. Die Maschine wird in Gang gehalten durch die Lügen um der Notwendigkeit willen, so daß in voller Konsequenz ein Mann, der sich nicht dieser »Weltordnung«, dieser Maschinerie unterwerfen will, als Verbrecher gegen eine Art göttlicher Ordnung angesehen wird. Solche Unterwerfung ist dann erreicht, wenn die Frage nach Schuld und Unschuld völlig verstummt und an ihre Stelle die Entschlossenheit getreten ist, die von der Willkür befohlene Rolle im Spiel der Notwendigkeit zu spielen.
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Er nimmt sich einen Rechtsanwalt, der ihm sofort sagt, das einzig Vernünftige sei, sich den bestehenden Zuständen anzupassen und sie nicht zu kritisieren. Er wendet sich um Rat an den Gefängnispfarrer, und der Geistliche predigt die verborgene Größe des Systems und befiehlt ihm, nicht nach der Wahrheit zu fragen, denn »man muß nicht alles für wahr halten, man muß es nur für notwendig halten.« »Trübselige Meinung«, sagte K. »Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.« Die Stärke der Maschine, in die der K. des Prozeß verfangen wird, liegt gerade in dieser scheinbaren Notwendigkeit einerseits und der menschlichen Bewunderung der Notwendigkeit anderseits. Lügen aus Notwendigkeit erscheint als etwas Erhabenes, und ein Mann, der sich nicht der Maschine unterwirft, obwohl Unterwerfung seinen Tod bedeuten könnte, wird als Verbrecher gegen eine Art göttlicher Ordnung angesehen.1 Im Falle des K.2 wird die Unterwerfung nicht durch Gewalt erreicht, sondern einfach durch das wachsende Schuldgefühl, das die unbegründete Anschuldigung im beschuldigten Menschen5 erweckt. Dieses Gefühl beruht natürlich letzten Endes auf der Tatsache, daß kein Mensch frei von Schuld ist. Und da6 K.,7 ein vielbeschäftigter Bank |Arendt-III-011-00000003 angestellter8, nie Zeit gehabt hat, über solche allgemeinen Prinzipien nachzudenken, wird er veranlaßt9, gewisse ihm unbekannte Bezirke seines Ichs zu erforschen. Dies wiederum10 führt ihn in Verwirrung, zur Verwechselung des organisierten13 und bösartigen Übels14 seiner Umwelt mit dem notwendigen16 Ausdruck jener allgemeinen17 Schuld, die harmlos und beinahe18 unschuldig ist,19 verglichen mit dem bösen Willen, der »die20 Lüge zur Weltordnung« macht und sogar des21 Menschen gerechtfertigte Demut braucht22 und mißbraucht23.
Im Falle des Prozeß2 wird die Unterwerfung nicht durch Gewalt erreicht, sondern einfach durch das wachsende Schuldgefühl, das die unbegründete leere4 Anschuldigung im angeklagten K.5 erweckt. Dieses Gefühl beruht natürlich letzten Endes auf der Tatsache, daß kein Mensch frei von Schuld ist. Im Falle des6 K., der,7 ein vielbeschäftigter Bankbeamter8, nie Zeit gehabt hat, über solche Allgemeinheiten sich den Kopf zu zerbrechen9, wird dies Schuldgefühl zum eigentlichen Verhängnis; es10 führt ihn nämlich11 in jene12 Verwirrung, in welcher er das organisierte13 und bösartige Übel14 seiner Umwelt verwechselt15 mit dem Ausdruck jener allgemein menschlichen17 Schuld, die harmlos und eigentlich18 unschuldig ist verglichen mit dem bösen Willen, der »die20 Lüge zur Weltordnung« macht und für diese Weltordnung selbst des21 Menschen berechtigte Demut brauchen22 und mißbrauchen kann23.
Er nimmt sich einen Rechtsanwalt, der ihm sofort sagt, das einzig Vernünftige sei, sich den bestehenden Zuständen anzupassen und sie nicht zu kritisieren. Er wendet sich um Rat an den Gefängnispfarrer, und der Geistliche predigt die verborgene Größe des Systems und befiehlt ihm, nicht nach der Wahrheit zu fragen, denn »man muß nicht alles für wahr halten, man muß es nur für notwendig halten.« »Trübselige Meinung«, sagte K. »Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.« Die Stärke der Maschine, in die der K. des »Prozeß« verfangen wird, liegt gerade in dieser scheinbaren Notwendigkeit anderseits. Lügen aus Notwendigkeit erscheint als etwas Erhabenes, und ein Mann, der sich nicht der Maschine unterwirft, obwohl Unterwerfung seinen Tod bedeuten könnte, wird als Verbrecher gegen eine Art göttlicher Ordnung angesehen.1 Im Falle des K.2 wird die Unterwerfung nicht durch die3 Gewalt erreicht, sondern einfach durch das wachsende Schuldgefühl, das die unbegründete Anschuldigung im beschuldigten Menschen5 erweckt. Dieses Gefühl beruht natürlich letzten Endes auf der Tatsache, daß kein Mensch frei von Schuld ist. Und da6 K. ein vielbeschäftigter Bankangestellter8, nie Zeit gehabt hat, über solche allgemeinen Prinzipien nachzudenken, wird er veranlaßt9, gewisse ihm unbekannte Bezirke seines Ichs zu erforschen. Dies wiederum10 führt ihn in Verwirrung, zur Verwechselung des organisierten13 und bösartigen Übels14 seiner Umwelt mit dem notwendigen16 Ausdruck jener allgemeinen17 Schuld, die harmlos und beinahe18 unschuldig ist,19 verglichen mit dem bösen Willen, der die »20Lüge zur Weltordnung« macht und sogar des Menschen gerechtfertigte Demut braucht und missbraucht. Das Schuldgefühl, das K. ergreift und eine eigene innere Entwicklung auslöst, verändert und bildet sein Opfer daher so lange, bis es in die Situation, sich vor Gericht zu verantworten, hineinpaßt. Dieses Gefühl befähigt K., in die Welt der Notwendigkeit, der Ungerechtigkeit und der Lüge einzutreten, eine Rolle nach den Regeln zu spielen, sich den bestehenden Zuständen anzupassen. Diese innere Entwicklung des Helden – seine éducations sentimentale – macht die zweite Schicht der Erzählung aus, die das Funktionieren der bürokratischen Maschine begleitet. Die Ereignisse der Außenwelt und die innere Entwicklung treffen endlich in der letzten Scene der Hinrichtung zusammen, einer Hinrichtung, der sich K., obwohl sie grundlos stattfindet, ohne Sträuben unterwirft. Es war für unser geschichtsbewusstes Jahrhundert charakteristisch, daß seine schlimmsten Verbrechen im Namen irgend einer Notwendigkeit begangen wurden, doer, was dasselbe bedeutet, im Namen der »Welle der Zukunft«.21 Menschen, die sich dem unterwerfen, die auf ihre Freiheit22 und ihr Recht zu handeln verzichten, sogar wenn sie den Preis des Todes für ihre Verblendung zahlen, kann kaum etwas Barmherzigeres gesagt werden als die Worte, mit denen Kafka den »Prozeß« beschließt: »Es war, als sollte die Scham ihn überleben23.«24
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Das Schuldgefühl1, das K. ergreift und eine eigene2 innere Entwicklung auslöst, verändert und bildet sein Opfer daher so lange3, bis es5 in die Situation6, sich vor Gericht zu verantworten7, hineinpaßt. Dieses Gefühl8 befähigt K.9, in die10 Welt der Notwendigkeit, der Ungerechtigkeit und der Lüge einzutreten, eine Rolle nach den Regeln zu spielen11, sich den bestehenden12 Zuständen anzupassen. Diese13 innere Entwicklung des Helden - seine éducation sentimentale - macht die zweite Schicht der Erzählung aus, die14 das Funktionieren der bürokratischen15 Maschine begleitet. Die Ereignisse der Außenwelt und die innere Entwicklung16 treffen endlich17 in der letzten Szene der Hinrichtung zusammen, einer Hinrichtung, der sich18 K., obwohl sie grundlos stattfindet,19 ohne Sträuben unterwirft. Es war für unser geschichtsbewußtes Jahrhundert charakteristisch, daß seine schlimmsten Verbrechen im Namen irgend einer20 Notwendigkeit begangen wurden, oder21, was dasselbe bedeutet, im Namen22 der »Welle der Zukunft«. Menschen,23 die sich dem unterwerfen24, die auf ihre Freiheit und ihr Recht zu handeln verzichten25, sogar wenn sie den Preis des Todes für ihre Verblendung zahlen, kann kaum etwas Barmherzigeres gesagt werden als26 die Worte, mit denen Kafka den Prozeß beschließt: »Es war, als sollte die Scham ihn überleben«27.
Das Funktionieren der bösartig bürokratischen Maschine1, in die der Held unschuldig sich verfangen hat, wird also begleitet durch eine2 innere Entwicklung, welche durch das Schuldgefühl ausgelöst worden ist. In dieser Entwicklung wird er »erzogen«3, verändert und gebildet,4 bis er5 in die Rolle6, die ihm zugemutet wurde7, hereinpaßt und8 befähigt ist9, in der10 Welt der Notwendigkeit, der Ungerechtigkeit und der Lüge schlecht und recht mitzuspielen. Dies ist seine Art11, sich den herrschenden12 Zuständen anzupassen. Die13 innere Entwicklung des Helden und14 das Funktionieren der Maschine treffen schließlich17 in der letzten Szene der Hinrichtung zusammen, als18 K. |Arendt-III-001-00000131 sich19 ohne Sträuben, ja ohne Widerrede abführen und töten läßt. Um der20 Notwendigkeit willen wird er ermordet21, um der Notwendigkeit willen und in22 der Verwirrung des Schuldbewußtseins unterwirft er sich. Und23 die einzige Hoffnung24, die am äußersten Ende der Romanhandlung blitzartig auftaucht25, ist: »Es war als sollte die Scham ihn überleben.« Die Scham nämlich, daß dies26 die Weltordnung ist und er, Josef K., wenn auch als ihr Opfer, ein gehorsames Glied derselben27.
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Daß der Prozeß eine Kritik der bürokratischen Regierungsform der Vorkriegs-Verwaltung Österreichs enthält1, dessen zahlreiche und sich bekämpfende Nationalitäten durch eine gleichförmige2 Beamtenhierarchie regiert wurden, ist seit dem ersten3 Erscheinen des Romans begriffen worden4. Kafka, Angestellter einer Arbeiterversicherungsgesellschaft5 und ein treuer6 Freund vieler7 osteuropäischer Juden, denen er die Genehmigung,8 in Österreich zu bleiben,9 verschaffen mußte,10 hatte eine sehr genaue Kenntnis der11 politischen Zustände seines Landes. Er wußte, daß ein Mann, der sich13 in den bürokratischen Apparat15 verfangen hatte,16 schon verurteilt ist, und daß niemand Gerechtigkeit bei Gerichtsverfahren erwarten kann17, bei denen18 die Auslegung des Gesetzes mit der Anwendung19 der Ungesetzlichkeit Hand in Hand geht20, wo21 die ewige Untätigkeit22 der |Arendt-III-011-00000004 Gesetzesausleger23 durch einen bürokratischen Apparat aufgewogen wird, dessen sinnloser24 Automatismus das Vorrecht25 der letzten Entscheidung hat. Dem Publikum der zwanziger Jahre schien das Übel der Bürokratie nicht groß genug zu sein, als daß es das Entsetzen und26 den Schrecken erklärlich machte27, die im28 Roman zum Ausdruck kommen. Die Menschen erschraken vor dem Roman mehr als vor dem wirklichen Sachverhalt. Sie suchten daher nach anderen29, scheinbar tieferen Auslegungen und fanden sie, nach30 der damaligen Mode,31 in einer geheimnisvollen Darstellung religiöser Realität, dem Ausdruck einer schrecklichen Theologie. Die Ursache dieser falschen Auslegung, die meiner Ansicht nach ein genau so grundlegendes, wenn auch32 nicht eben so grobes Mißverständnis darstellt wie die psychotherapeutische Variante33, liegt natürlich im Werke Kafkas selbst. Kafka hatte34 wirklich eine Gesellschaft gezeichnet, die sich als Stellvertretung Gottes eingesetzt hatte,35 und beschrieb Menschen36, die die Gesetze der Gesellschaft als göttlich betrachteten - unwandelbar durch den menschlichen Willen. Mit anderen Worten37, was an der Welt38, in der Kafkas Helden verstrickt sind, falsch ist, ist gerade ihre Vergöttlichung, ihre Anmaßung, eine göttliche Notwendigkeit darzustellen39. Kafka will diese Welt zerstören40, indem er ihre scheußliche und verborgene Struktur aufdeckt, indem er Wirklichkeit41 und Anspruch einander gegenüberstellt. Aber42 der moderne Leser - oder wenigstens43 der Leser der zwanziger Jahre44, der sich durch Paradoxe als solche bezaubern ließ und von bloßen Gegensätzen angezogen wurde45, wollte nicht mehr auf Vernunft hören. Sein Verständnis für Kafka offenbart mehr über ihn selber als über Kafka, es enthüllt seine Eignung für diese Gesellschaft, sei es auch die Eignung46 einer »Elite«47. Dieser Leser bleibt völlig ernst bei dem Sarkasmus Kafkas, von der lügnerischen Notwendigkeit und der notwendigen Lüge als einem göttlichen Gesetz.48
Daß der Prozeß eine Kritik der bürokratischen Regierungsform des alten Österreich impliziert1, dessen zahlreiche und sich bekämpfende Nationalitäten durch eine uniforme2 Beamtenhierarchie regiert wurden, wurde gleich bei3 Erscheinen des Romans erkannt4. Kafka, Angestellter einer Arbeitsversicherungsgesellschaft5 und Freund osteuropäischer Juden, denen er die Aufenthaltserlaubnis8 in Österreich zu verschaffen hatte, kannte die11 politischen Zustände seines Landes sehr genau12. Er wußte, daß, hatte sich einer erst einmal13 in den Maschen des14 bürokratischen Apparates15 verfangen, er auch16 schon verurteilt war. Die Herrschaft der Bürokratie brachte es mit sich17, daß18 die Auslegung des Gesetzes zum Instrument19 der Gesetzlosigkeit wurde20, wobei21 die chronische Aktionsunfähigkeit22 der Gesetzinterpreten23 durch einen an sich sinnlosen24 Automatismus in25 der niederen Beamtenhierarchie kompensiert wurde, dem alle eigentlichen Entscheidungen überlassen waren. Da aber in26 den zwanziger Jahren27, als der28 Roman zum ersten Mal erschien29, das eigentliche Wesen30 der Bürokratie31 in Europa noch32 nicht hinlänglich bekannt war33, beziehungsweise nur einer verschwindend kleinen Schicht von europäischen Menschen34 wirklich zum Verhängnis geworden war, schien das Entsetzen35 und der Schrecken36, die im Roman zum Ausdruck kommen37, unerklärlich38, seinem eigentlichen Inhalt gleichsam nicht adäquat. Man erschrak mehr vor dem Roman als vor der Sache selbst39. So begann man nach anderen40, scheinbar tieferen Auslegungen zu suchen41 und fand sie,42 der Mode43 der Zeit folgend44, in einer kabbalisierenden Darstellung |Arendt-III-001-00000132 religiöser Realitäten45, gleichsam46 einer satanischen Theologie47.
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Daß solche Irrtümer möglich waren -- und dies Mißverständnis ist nicht weniger fundamental, wenn auch weniger vulgär, als das Mißverständnis der psychoanalytischen Auslegungen Kafkas --, liegt natürlich im Werke Kafkas selber. Kafka beschreibt wirklich eine Gesellschaft, die sich für die Stellvertretung Gottes auf Erden hält und schildert Menschen, welche die Gesetze solch einer Gesellschaft als göttliche Gebote betrachten -- unwandelbar durch menschlichen Willen. Das Böse der Welt, in die Kafkas Helden sich verstricken, ist gerade ihre Vergottung, ihre Anmaßung, eine göttliche Notwendigkeit darzustellen. Kafka ist darauf aus, diese Welt zu zerstören, indem er ihre scheußliche Struktur überdeutlich nachzeichnet und so Wirklichkeit und Anspruch einander gegenüberstellt. Aber der Leser der zwanziger Jahre, bezaubert von Paradoxen, verwirrt von dem Spiel der Gegensätze als solchen, wollte auf Vernunft nicht hören. Seine Auslegungen von Kafka offenbarten mehr über ihn selbst als über Kafka; in seiner naiven Bewunderung einer Welt, die Kafka in solcher Überdeutlichkeit als unerträglich scheußlich dargestellt hatte, enthüllte er seine eigene Eignung für die »Weltordnung«, enthüllte er, wie eng die sogenannte Elite und Avantgarde dieser Weltordnung verbunden waren. Die sarkastisch-bittere Bemerkung Kafkas über die verlogene Notwendigkeit und das notwendige Lügen, die zusammen die »Göttlichkeit« dieser Weltordnung ausmachen, und welche so deutlich den eigentlichen Schlüssel zu der Konstruktion der Romanhandlung darstellt, wurde einfach übersehen.
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Kafkas nächster1 großer Roman, Das Schloß, führt uns in dieselbe2 Welt, die diesmal nicht durch die Augen eines Menschen gesehen wird, der sich am Ende der Notwendigkeit unterwirft und von ihrer Regierung nur erfährt, weil er von ihr verurteilt wird,4 sondern durch die Augen eines ganz5 anderen K. Dieser K. kommt6 aus freiem Willen zu ihr, als Fremder, und will einen sehr bestimmten Zweck erreichen: er will8 sich niederlassen, ein Mitbürger werden, sein Leben aufbauen und10 heiraten, Arbeit finden und11 ein nützliches Mitglied der Gesellschaft werden.
Kafkas zweiter1 großer Roman, Das Schloß, führt uns in die gleiche2 Welt, die aber3 diesmal nicht durch die Augen eines Menschen gesehen wird, der sich um seine Regierung und andere Fragen allgemeiner Natur nie |Arendt-III-001-00000133 gekümmert hat und daher hilflos dem Schein der Notwendigkeit ausgeliefert ist;4 sondern durch die Augen eines anderen K., der6 aus freiem Willen zu ihr kommt7, als Fremder, und in ihr ein bestimmtes Vorhaben ausführen will:8 sich niederlassen, ein Mitbürger werden, sich9 sein Leben aufbauen,10 heiraten, Arbeit finden, kurz11 ein nützliches Mitglied der menschlichen12 Gesellschaft werden.
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Die hervorstechendste Eigenschaft K.s1 im Schloß ist, daß er sich2 nur für Allgemeingüter3 interessiert, für die4 Dinge, an denen alle6 Menschen ein natürliches Anrecht haben7. Aber während er nichts weiter8 verlangt, ist es10 klar, daß er sich auch mit11 nichts Anderem begnügen12 wird. Er läßt sich leicht dazu überreden13, seinen Beruf zu wechseln;15 aber Beschäftigung,16 »geregelte Arbeit«, verlangt er als sein Recht. Seine17 Schwierigkeiten beginnen, weil nur19 das Schloß seine Forderungen erfüllen kann;20 und das Schloß wird das entweder als Gunstbezeigung tun oder wenn21 er einwilligt22, in seinen Geheimdienst einzutreten23: -24 »ein scheinbarer Dorfarbeiter25, der in Wirklichkeit sein ganzes Arbeitsverhältnis von den Nachrichten des Barnabas« - das ist der Bote des Hofes - »bestimmen ließ.26«
Das Charakteristische für die Handlung1 im Schloß ist, daß der Held2 nur an dem Allerallgemeinsten3 interessiert ist und nur um4 Dinge kämpft5, die eigentlich dem6 Menschen von Geburt garantiert scheinen7. Aber während er nicht mehr8 verlangt als das Minimum menschlicher Existenz9, wird doch gleich zu Beginn10 klar, daß er dies Minimum als Recht verlangt und11 nichts weniger als sein Recht akzeptieren12 wird. Er ist bereit, alle nötigen Eingaben zu machen13, um die Aufenthaltserlaubnis zu bekommen, aber als Gnadengeschenk will er sie nicht; er ist bereit,14 seinen Beruf zu wechseln,15 aber auf16 »geregelte Arbeit« kann er nicht verzichten. All dies hängt von den Entscheidungen des Schlosses ab, und die17 Schwierigkeiten K.s18 beginnen, als sich herausstellt, daß19 das Schloß Rechte nur als Gnadengeschenke vergibt oder als Vorrechte. Und da K. Recht will20 und nicht Vorrechte, Mitbürger der Dorfbewohner werden und »möglichst weit den Herren vom Schloß entrückt« sein möchte, lehnt21 er beides ab22, das Gnadengeschenk und die auszeichnenden Beziehungen zum Schloß23: so, hofft er, werden24 »sich ihm gewiß mit einem Schlage alle Wege erschließen25, die ihm, wenn es nur auf die Herren oben und ihre Gnade angekommen wäre, für immer nicht nur versperrt, sondern unsichtbar geblieben wären26«.27
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Da seine Forderungen nichts anderes1 sind als die unveräußerlichen Menschenrechte2, kann er sie nicht als Gunstbezeigung des Schlosses annehmen. An diesem Punkt treten die Dorfleute auf; sie3 suchen K. davon4 zu überzeugen5, daß ihm die Erfahrung7 fehle und8 daß er nicht wisse, daß9 das ganze Leben aus10 Gnade und Ungnade, aus Gunst und Mißgunst besteht12 und davon beherrscht wird, - beide so unverständlich und13 zufällig wie14 Glück und Unglück. Im Recht oder im Unrecht zu sein, das sei ein Teil des »Geschickes«, versuchen sie ihm zu erklären15, des Geschickes17, das niemand ändern18, das man nur19 erfüllen kann.
An dieser Stelle treten die Dorfbewohner in das Zentrum der Handlung. Sie1 sind erschreckt, daß K. einfach einer der ihren werden will2, ein einfacher »Dorfarbeiter«, daß er es ablehnt, ein Glied der herrschenden Gesellschaft zu werden. Wieder und wieder3 suchen sie ihm klar4 zu machen5, daß es6 ihm an allgemeiner Welt- und Lebenserfahrung7 fehle,8 daß er nicht wisse, wie es um9 das Leben |Arendt-III-001-00000134 bestellt sei, das nämlich wesentlich von10 Gnade und Ungnade abhänge11, Segen oder Fluch sei,12 und daß kein wirklich wichtiges und entscheidendes Ereignis verständlicher oder weniger13 zufällig sei als14 Glück und Unglück. K. will nicht verstehen, daß für die Dorfbewohner auch Recht und Unrecht, beziehungsweise im Recht oder im Unrecht sein15, noch Teil16 des Schicksals ist17, das man hinzuzunehmen hat18, das man erfüllen kann aber nicht ändern20.
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K.s Fremdheit bekommt so eine weitere Bedeutung: er ist nicht nur fremd2, weil er weder zum Dorf noch zum Schloß gehört, sondern weil er3 der einzige Normale und Gesunde5 in einer6 Welt ist7, wo alles Menschliche8 und Normale9, wo Liebe10, Arbeit, Kameradschaft gewaltsam11 aus der Hand12 des Menschen gerissen wurden13, um als Gabe von außen verliehen zu werden - oder14, wie sich K. ausdrückt15, von oben. Ob Schicksal16, Segen oder Fluch, jedenfalls ist es etwas Geheimnisvolles, etwas, das der Mensch entgegennehmen kann oder das ihm verweigert wird,18 das er aber nie selber schaffen kann. Deswegen ist K.s Streben keineswegs gewöhnlich und einleuchtend19, sondern im Gegenteil außergewöhnlich20 und anstößig21. Er kämpft um das22 Minimum, als ob es etwas wäre24, das25 die Totalität aller möglichen Forderungen umfaßt. Für die Dorfbewohner beruht26 K.s Fremdheit nicht darauf, daß27 er der wesentlichen Dinge des Lebens28 beraubt ist, sondern daß29 er sie verlangt.
Von hier ab erscheint die Fremdheit des zugereisten Landvermessers1 K., der kein Dorfbewohner ist und kein Schloßbeamter und daher außerhalb der Herrschaftsverhältnisse der ihn umgebenden Welt steht2, erst in ihrer eigentlichen Bedeutung. In seinem Insistieren auf den Menschenrechten erweist sich3 der Fremde als der4 einzige, der noch einen Begriff von einem einfach menschlichen Leben5 in der6 Welt hat. Die spezifische Welterfahrung der Dorfbewohner hat sie gelehrt7, all dies, Liebe8 und Arbeit und Freundschaft9, als eine Gabe anzusehen10, die sie »von oben«,11 aus den Regionen12 des Schlosses empfangen mögen13, deren sie selbst aber keinesfalls mehr Herr sind. So haben sich die einfachsten Beziehungen ins geheimnisvoll Dunkle gehüllt14, was im Prozeß die Weltordnung war15, tritt hier als Schicksal auf16, als17 Segen oder Fluch, dem man sich mit Furcht und Ehrfurcht interpretierend unterwirft. K.s Vorsatz, sich auf einem Rechtsboden selbst18 das zu schaffen und zu verschaffen, was zu einem menschlichen Leben gehört, wirkt daher keineswegs als selbstverständlich19, sondern ist in dieser Welt ganz20 und gar eine Ausnahme, und als solche ein Skandal21. K. wird darum gezwungen, für ein22 Minimum menschlicher Forderungen so zu kämpfen23, als wäre in ihnen ein wahnwitziges Maximum menschlicher Wünsche überhaupt beschlossen24, und25 die Dorfbewohner rücken von ihm ab, weil sie in seinem Verlangen nur eine alles und alle bedrohende Hybris zu vermuten vermögen.26 K. ist ihnen fremd, nicht weil27 er der Menschenrechte als Fremder28 beraubt ist, sondern weil29 er kommt und30 sie verlangt.
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Trotz der Furcht der Dorfbewohner, die jeden |Arendt-III-001-00000135 Augenblick eine Katastrophe für K. befürchten, passiert ihm eigentlich gar nichts. Er erreicht allerdings auch nichts, und der nur mündlich von Kafka mitgeteilte Schluß sah seinen Tod aus Erschöpfung - also einen völlig natürlichen Tod - vor. Das Einzige, was K. erreicht, erreicht er ohne Absicht; es gelingt ihm, nur durch seine Haltung und seine Beurteilung der um ihn herum vorgehenden Dinge, einigen der Dorfbewohner die Augen zu öffnen: »Du hast einen erstaunlichen Überblick... manchmal hilfst du mir mit einem Wort, es ist wohl, weil du aus der Fremde kommst. Wir dagegen, mit unsern traurigen Erfahrungen und fortwährenden Befürchtungen erschrecken ja, ohne uns dagegen zu wehren, schon über jedes Knacken des Holzes, und wenn der eine erschrickt, erschrickt auch gleich der andere und weiß nun nicht einmal den richtigen Grund. Auf solche Weise kann man zu keinem richtigen Urteil kommen... Was für ein Glück ist es für uns, daß du gekommen bist.« K. wehrt sich gegen diese Rolle; er ist nicht als »Glücksbringer« gekommen, er hat keine Zeit und keine überflüssige Kraft, um andern zu helfen; wer solches von ihm geradezu verlangt, »verwirrte seine Wege«1 Er will nichts als sein eigenes Leben in Ordnung bringen und in Ordnung halten. Da er im Verfolg dieses Vorhabens, anders als der K. des Prozeß, sich nicht dem scheinbar Notwendigen unterwirft, wird nicht Scham, sondern Erinnerung der Dorfbewohner ihn überleben.
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Kafkas Welt ist zweifellos eine furchtbare Welt. Daß sie mehr als ein Albtraum ist, daß sie vielmehr strukturell der Wirklichkeit, die wir zu erleben gezwungen wurden, unheimlich adäquat ist, wissen wir heute vermutlich besser als vor zwanzig Jahren. Das Großartige dieser Kunst liegt darin beschlossen, daß sie heute noch so |Arendt-III-001-00000136 erschütternd wirken kann wie damals, daß der Schrecken der Strafkolonie durch die Realität der Gaskammern nichts an Unmittelbarkeit eingebüßt hat.
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K.s hartnäckige Zielstrebigkeit öffnet jedoch einigen Dorfbewohnern die Augen; sein Benehmen zeigt ihnen, daß Menschenrechte wert sein können, erkämpft zu werden und daß die Herrschaft des Schlosses nicht göttliches Gebot ist und darum angegriffen werden kann. Er läßt sie erkennen, daß Menschen, die unsere Erfahrungen |Arendt-III-011-00000006 durchgemacht haben, die von unserer Furcht heimgesucht wurden, die bei jedem Klopfen zittern, daß solche Menschen die Dinge nicht im rechten Verhältnis sehen können, so etwa drücken sie sich aus. Und sie fügen hinzu: »wie froh sind wir, daß du zu uns kamst«! Doch der Kampf des Fremden hatte nur den Erfolg, ein Beispiel zu geben. Sein Kampf endet mit seinem Tod durch Erschöpfung - ein vollkommen natürlicher Tod. Aber da er, anders als der Kafka des Prozeß, sich nicht dem unterwarf, was scheinbar notwendig war, gibt es keine Scham, die ihn überlebt.
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Der Leser seiner Erzählungen wird wahrscheinlich ein Stadium durchmachen, in dem er geneigt ist, Kafkas Schreckbild einer Welt als belanglose, wenn auch psychologisch interessante Prophezeihung einer Zukunftswelt anzusehen1. Aber diese Welt hat sich tatsächlich verwirklicht. Die Generation der vierziger Jahre und besonders diejenigen2, die den zweifelhaften Vorzug hatten, unter dem furchtbarsten Regime gelebt zu haben, das die Geschichte bisher hervorgebracht hat, wissen3, daß Kafkas Terror der wahren Natur des Sachverhaltes entspricht, die wir Bürokratie nennen - wo Regierung durch Verwaltung und Gesetze durch willkürliche Erlasse ersetzt werden. Wir wissen, daß Kafkas Konstruktion kein bloßer Albtraum war4.
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Die Generation hat erfahren, daß Kafkas Terror der wahren Natur des Sachverhaltes entspricht, die wir Bürokratie nennen – wo Regierung durch Verwaltung und Gesetze durch willkürliche Erlasse ersetzt werden1. Wir wissen, dass Kafkas Konstruktion kein bloßer Albtraum war. In einer sich auflösenden Gesellschaft2, die blind dem natürlichen Weg des Unterganges folgt, kann die Katastrophe vorausgesehen werden. Nur Rettung, nicht Untergang kommt unerwartet3, denn die Rettung – und nicht der Untergang – hängt von der Freiheit und dem Willen des Menschen ab. Kafkas sogenannte Prophezeihungen waren nur eine nüchterne Analyse von Grund-Strukturen, die heute offenbar geworden sind4.
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Wäre Kafkas Beschreibung dieser Maschinerie wirklich Prophezeihung1, so wäre sie genau so billig, wie die zahllosen anderen Vorhersagen, die uns3 seit dem Anfang4 des Jahrhunderts plagen6. Charles Péguy, der selber7 oft mit einem8 Propheten verwechselt wurde9, bemerkte einmal: »Der Determinismus, soweit10 er begriffen11 werden kann, ist vielleicht nichts anderes als das Gesetz der Rückstände«12. Dieser Satz berührt am Ende eine tiefe13 Wahrheit. Insofern Leben Abstieg ist, der zum Tode führt14, kann es15 vorausgesagt werden. In einer sich auflösenden16 Gesellschaft, die blind dem natürlichen Weg des Unterganges folgt18, kann die Katastrophe vorausgesehen20 werden. Nur22 Rettung,23 nicht Untergang kommt unerwartet, denn24 die Rettung -25 und nicht der Untergang -26 hängt von der Freiheit und dem Willen des Menschen ab. Kafkas sogenannte Prophezeihungen waren nur eine nüchterne Analyse von Grund-Strukturen, die heute offenbar geworden sind. Durch den Glauben an einen notwendigen und automatischen Prozeß, dem sich der Mensch28 unterwerfen müsse, einen Glauben, der zu seiner Zeit beinahe allgemeingültig war, wurden diese verderblichen Strukturen unterstützt,29 und der Untergang selbst beschleunigt30. Die Worte des Gefängnisgeistlichen31 im Pro |Arendt-III-011-00000007 zeß enthüllen32 den Glauben der Beamten als Glauben an eine Notwendigkeit34, als deren Sachwalter sie auftreten. Aber35 als Sachwalter36 der Notwendigkeit wird der Mensch Sachwalter des Gesetzes38 des natürlichen Untergangs und er erniedrigt sich zum natürlichen Werkzeug der Zerstörung, die durch den verkehrten Gebrauch menschlicher Fähigkeiten noch beschleunigt werden kann. Aber39 wie ein Haus, das40 von den41 Menschen seinem natürlichen Schicksal überlassen wurde, langsam dem Gang des Zerfalls folgen wird, der allem Menschenwerk irgendwie innewohnt42, so sicher wird die Welt, die43 von Menschen gebaut wurde44 und nach menschlichen Satzungen, nicht nach Naturgesetzen eingerichtet ist,45 wieder ein Teil der Natur werden und dem Gesetz des Zerfalls folgen46, wenn der Mensch sich entscheidet47, selbst ein Teil der Natur zu werden,49 ein blindes aber genau50 arbeitendes Werkzeug der Naturgesetze, und wenn er auf seine höchste Gabe verzichtet, selber Gesetze aufzustellen oder sie der Natur sogar vorzuschreiben51.
Wäre Kafkas Dichtung wirklich nichts als Prophezeiung eines kommenden Schreckens1, so wäre sie genau so billig wie alle andern Untergangsprophetien2, mit denen wir seit Beginn unseres Jahrhunderts oder vielmehr3 seit dem Drittel4 des 19.5 Jahrhunderts heimgesucht worden sind6. Charles Péguy, der selbst7 oft die zweifelhafte Ehre gehabt hat, unter die8 Propheten gerechnet zu werden9, bemerkte einmal: »Der Determinismus, sofern10 er überhaupt vorgestellt11 werden kann, ist vielleicht nichts anderes als das Gesetz der Rückstände.« Hierin liegt eine sehr präzise13 Wahrheit. Insofern Leben ohnehin unausweichlich und natürlicherweise vom Tod beschlossen wird14, kann sein Ende allerdings immer15 vorausgesagt werden. Der natürliche Weg ist immer der Weg des Untergangs, und eine16 Gesellschaft, die sich17 blind der Notwendigkeit der in ihr selbst beschlossenen Gesetze anheimgibt18, kann immer nur untergehen. Propheten sind notwendigerweise immer Unglückspropheten, weil19 die Katastrophe immer vorausgesagt20 werden kann21. Das Wunder ist immer die22 Rettung und23 nicht der Untergang; denn nur24 die Rettung,25 und nicht der Untergang,26 hängt von der Freiheit des Menschen ab27 und seiner Kapazität, die Welt und ihren natürlichen Ablauf zu ändern. Der in Kafkas wie unserer Zeit so verbreitete Wahn, daß es die Aufgabe des Menschen sei, sich einem von gleich welchen Mächten vorherbestimmten Prozeß zu28 unterwerfen, kann den natürlichen Untergang nur beschleunigen, weil in solchem Wahn der Mensch mit seiner Freiheit der Natur29 und ihrer Untergangstendenz gleichsam zu Hilfe kommt30. Die Worte des Gefängniskaplans31 im Prozeß enthüllen die geheime Theologie und32 den innersten33 Glauben der Beamten als Glauben in Notwendigkeit überhaupt34, und die Beamten sind letztlich die Funktionäre der Notwendigkeit -35 als ob es36 der Funktionäre überhaupt bedürfte, um den Untergang und das Verderben zum Funktionieren |Arendt-III-001-00000137 zu bringen. Als Funktionär der37 Notwendigkeit wird der Mensch der höchst überflüssige Funktionär38 des natürlichen Gesetzes des Vergehens, und da er mehr als Natur ist, erniedrigt er sich dadurch zum Werkzeug aktiver Zerstörung. Denn so sicher39 wie ein von Menschen nach menschlichen Gesetzen erbautes Haus verfallen wird, sobald der Mensch es verläßt und seinem natürlichen Schicksal überläßt42, so sicher wird die von Menschen erbaute44 und nach menschlichen Gesetzen funktionierende Welt45 wieder ein Teil der Natur werden und ihrem katastrophalen Untergang anheimgegeben sein46, wenn der Mensch beschließt47, selbst wieder48 ein Teil der Natur zu werden -49 ein blindes aber mit höchster Präzision50 arbeitendes Werkzeug der Naturgesetze.
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23
Wenn1 der Fortschritt ein unvermeidliches, übermenschliches Gesetz sein soll4, welches alle Zeiten der5 Geschichte in gleicher Weise umgreift6, und in dessen Maschen7 die Menschheit unentrinnbar verstrickt8 ist, dann ist9 allerdings der Fortschritt am besten10 und exaktesten11 in folgenden Zeilen aus Walter Benjamins letztem Werk beschrieben13:
Für diesen Sachzusammenhang ist es verhältnismäßig gleichgültig, ob1 der notwendigkeitsbesessene Mensch an Untergang glaubt oder an2 Fortschritt. Wäre Fortschritt wirklich »notwendig«, wirklich3 ein unvermeidliches, übermenschliches Gesetz, welches alle Zeiten unserer5 Geschichte gleichermaßen umspannt6, und in dessen Netz7 die Menschheit unentrinnbar gefangen8 ist, dann könnte man9 allerdings die Macht und den Gang des Fortschritts nicht besser10 und exakter beschreiben als11 in den12 folgenden Zeilen aus Walter Benjamins Geschichtsphilosophischen Thesen132:
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24
»Der Engel der Geschichte .... kehrt sein1 Antlitz der Vergangenheit zu2. Wo wir3 eine Kette von Ereignissen sehen4, sieht er ein einziges Verhängnis6, das unaufhörlich Ruine7 auf Ruine türmt8 und sie vor seine10 Füße schleudert. Er möchte verweilen können - um11 die Toten zu erwecken12 und die Bruchstücke aneinander zu fügen13. Aber ein Wind14 weht vom Paradies und verfängt15 sich in seinen Flügeln, der16 so stark ist, daß der Engel sie nicht schließen kann. Dieser Wind18 treibt ihn unwiderstehlich19 in die Zukunft der er den Rücken dreht21, während sich22 der Trümmerhaufen vor ihm in den23 Himmel türmt24. Dieser Wind ist25, was wir Fortschritt nennen«27.
»Der Engel der Geschichte... hat das1 Antlitz der Vergangenheit zugewendet2. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint4, da5 sieht er eine einzige Katastrophe6, die unablässig Trümmer7 auf Trümmer häuft8 und sie ihm9 vor die10 Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen,11 die Toten wecken12 und das Zerschlagene zusammenfügen13. Aber ein Sturm14 weht vom Paradiese her, der15 sich in seinen Flügeln verfangen hat und16 so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr17 schließen kann. Dieser |Arendt-III-001-00000138 Sturm18 treibt unaufhaltsam19 in die Zukunft,20 der er den Rücken kehrt21, während der Trümmerhaufen vor ihm zum23 Himmel wächst24. Das25, was wir den26 Fortschritt nennen, ist dieser Sturm27.«28
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25
Trotz der Bestätigung durch neuere Zeiten1, daß Kafkas Schreckbild einer Welt eine reale Möglichkeit war, deren Wirklichkeit sogar seine Schauergeschichten übertraf2, überkommt3 uns beim Lesen seiner Romane4 und Erzählungen ein sehr bestimmtes Gefühl der |Arendt-III-011-00000008 Unwirklichkeit. Erstens durch seine Helden, die5 nicht einmal einen Namen haben6, sondern häufig nur durch Anfangsbuchstaben eingeführt werden; sie7 sind gewiß keine Menschen8, die wir in der wirklichen Welt treffen können9, denn es fehlen ihnen alle die vielen überflüssigen und ins Einzelne gehenden Eigenschaften, die zusammen ein wirkliches Individuum ausmachen. Sie bewegen sich in einer Gesellschaft, in10 der jedem eine Rolle zugewiesen ist11, und jedermann einen Beruf hat; und sie12 sind nur durch die Unbestimmtheit ihrer Rolle in Gegensatz zu den anderen gestellt13, da ihnen ein bestimmter Platz14 in der Welt der Berufstätigen fehlt. Dort leben alle, seien es die Kleinen, wie das Volk im Schloß15, das Angst um seine Stellung hat16, oder17 die Großen, wie die Beamten im Schloß und im Prozeß,18 in vollständiger Übereinstimmung mit ihren Stellungen und streben nach19 einer Art übermenschlicher Vollkommenheit. Sie haben keine psychologischen Eigenschaften20, weil sie nichts als Berufstätige sind. Als zum Beispiel21 in dem Roman Amerika22 der Oberportier eines Hotels jemand verwechselt, sagt er: »Ja23, dann kann ich nicht mehr Oberportier sein, wenn ich die Leute verwechsle..... In meinen dreißig Dienstjahren24 ist mir allerdings noch keine Verwechslung passiert«. Sich irren heißt seine Stellung verlieren; deswegen kann er nicht einmal die Möglichkeit eines Irrtums zugeben. Arbeitende, die von25 der Gesellschaft gezwungen werden26, die menschliche Möglichkeit des Irrtums zu leugnen, können nicht menschlich bleiben27, sondern müssen handeln, als ob sie Übermenschen wären28. Kafkas Beamte, Angestellte und Funktionäre sind weit davon entfernt, vollkommen29 zu sein, aber sie alle handeln nach der nämlichen Voraussetzung allumfassender Tüchtigkeit30.
Vielleicht ist der beste Beweis dafür1, daß Kafka nicht in die Reihe der neueren Weissager gehört, die Tatsache2, daß3 uns beim Lesen seiner grauenhaftesten4 und grausamsten Geschichten, die doch alle von der Wirklichkeit inzwischen erfüllt wenn5 nicht übertroffen worden sind6, immer noch das Gefühl der Unwirklichkeit überkommt. Da7 sind seine Helden8, die oft nicht einmal einen Namen haben9, sondern nur mit Anfangsbuchstaben geführt werden. Aber selbst wenn diese verführerische Anonymität nur dem Zufall der Unvollendetheit10 der Erzählungen geschuldet wäre -11, diese Helden12 sind keinesfalls wirkliche Menschen13, Personen, die wir14 in der wirklichen Welt treffen könnten; trotz eingehender Schilderungen fehlen ihnen gerade jene einzelnen und einmaligen Eigenschaften15, jene kleinen und oft überflüssigen Charakterzüge16, die alle zusammen erst einen wirklichen Menschen ausmachen. Sie bewegen sich18 in einer Gesellschaft20, in der jedem eine ganz bestimmte Rolle zugewiesen wird23, in der jeder durch seinen Beruf gewissermaßen definiert24 ist; und sie unterscheiden sich von dieser Gesellschaft und nehmen die zentrale Stelle in der Handlung nur dadurch ein, daß sie keinen bestimmten Platz in dieser Welt25 der Berufstätigen haben26, daß ihre Rolle schlechthin unbestimmbar ist. Dies aber heißt27, daß auch die Nebenpersonen nicht wirkliche Menschen sind28. Mit Realität im Sinne der realistischen Romane haben diese Erzählungen nichts29 zu tun30.
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Wenn die Kafkasche Welt auf diesen der äußeren Wirklichkeit abgelauschten Realitätscharakter des realistischen Romans gänzlich verzichtet, so verzichtet sie vielleicht noch radikaler auf jenen der inneren Wirklichkeit abgelauschten Realitätscharakter des psychologischen |Arendt-III-001-00000139 Romans. Die Menschen, unter denen sich die Kafkaschen Helden bewegen, haben keine psychologischen Eigenschaften, weil sie außerhalb ihrer Rollen, außerhalb ihrer Stellungen und Berufe gar nicht existieren; und seine Helden haben keine psychologisch definierbaren Eigenschaften, weil sie von ihrem jeweiligen Vorhaben - dem Gewinnen eines Prozesses, der Erreichung von Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis und so weiter - vollkommen und bis zum Rande ihrer Seele ausgefüllt sind.
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Diese eigenschaftslose Abstraktheit der Kafkaschen Menschen kann leicht verführen, sie für Exponenten von Ideen, für Repräsentanten von Meinungen zu halten, und alle zeitgenössischen Versuche, in das Kafkasche Werk eine Theologie hineinzuinterpretieren, hängen faktisch mit diesem Mißverständnis zusammen. Sieht man sich demgegenüber die Kafkasche Romanwelt unbefangen und ohne vorgefaßte Meinungen an, so wird schnell klar, daß seine Personen gar nicht die Zeit und gar nicht die Möglichkeit haben, individuelle Eigenschaften auszubilden. Wenn sich zum Beispiel in Amerika die Frage erhebt, ob der Oberportier des Hotels nicht vielleicht den Helden mit einer anderen Person versehentlich verwechselt hat, so lehnt der Portier diese Möglichkeit mit der Begründung ab, daß, könnte er Leute miteinander verwechseln, er ja nicht mehr Oberportier bleiben könne; sein Beruf besteht ja gerade darin, Menschen nicht miteinander zu verwechseln. Die Alternative ist ganz klar: entweder ist er ein Mensch, behaftet mit der Fehlbarkeit menschlicher Wahrnehmung und Erkenntnis, oder er ist ein Oberportier und hat dann zum mindesten eine Art übermenschlicher Vollkommenheit in dieser seiner Funktion zu prätendieren. Angestellte, die die Gesellschaft zwingt, mit der Präzision der Unfehlbarkeit zu arbeiten, werden darum noch nicht unfehlbar. Kafkas Beamte, Angestellte, Arbeiter und Funktionäre sind weit davon entfernt, unfehlbar zu sein; aber sie alle handeln unter der Voraussetzung einer übermenschlichen universal-kompetenten Tüchtigkeit.
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Ein gewöhnlicher Schriftsteller könnte1 den Konflikt eines Beamten3 zwischen seinem Privatleben4 und seinem Amt beschreiben;5 er könnte zeigen6, wie das Amt das Privatleben des Menschen7 aufgefressen hat, oder wie sein Privatleben - der Besitz einer8 Familie zum Beispiel -9 ihn gezwungen hat, alle menschlichen Züge aufzugeben und sein Amt10 so zu erfüllen11, als ob er unmenschlich wäre12. Kafka stellt13 uns sofort vor das14 Ergebnis einer solchen Entwicklung, denn nur das Ergebnis gilt15. Umfassende16 Tüchtigkeit ist der Motor der Maschine19, in der sich20 Kafkas Helden verfangen, einer Maschine21, die in sich selber sinnlos und zerstörerisch ist, die aber reibungslos arbeitet22.
Der Unterschied zwischen der Kafkaschen und der üblichen Romantechnik besteht darin, daß Kafka1 den ursprünglichen2 Konflikt eines Funktionärs3 zwischen seiner Privatexistenz4 und seiner Funktion nicht mehr beschreibt, daß5 er sich nicht mehr dabei aufhält zu erzählen6, wie das Amt das Privatleben des Betreffenden und Betroffenen7 aufgefressen hat, oder wie seine private Existenz, seine8 Familie zum Beispiel,9 ihn gezwungen hat, unmenschlich zu werden und sich mit seiner Funktion permanent10 so zu identifizieren11, wie sonst nur der Schauspieler sich mit seiner Rolle identifiziert für die kurze Dauer des Spiels12. Kafka konfrontiert13 uns sofort mit dem14 Ergebnis einer solchen Entwicklung, denn nur das Ergebnis ist für ihn relevant15. Das Vorgeben einer universalen Kompetenz, der Schein einer übermenschlichen16 Tüchtigkeit ist der verborgene17 Motor,18 der die Maschinerie der Vernichtung19, in welcher20 Kafkas Helden gefangen sind21, bedient und für den reibungslosen Ablauf des in sich Sinnlosen verantwortlich ist22.
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Das Hauptthema der Kafkaschen Romane ist der Konflikt zwischen einer Welt, die in der Form einer solchen reibungslos funktionierenden Maschinerie dargestellt ist, und einem Helden, der versucht, sie zu zerstören. Diese Helden wiederum sind nicht einfach Menschen, wie wir ihnen täglich in der Welt begegnen, sondern variierende Modelle eines Menschen überhaupt, dessen einzig unterscheidende Qualität eine unbeirrbare Konzentration auf allgemeinst Menschliches ist. Seine Funktion in der Romanhandlung ist immer die gleiche: er entdeckt, daß die Welt und Gesellschaft der Normalität faktisch anormal sind, daß die Urteile der von allen akzeptierten Wohlanständigen faktisch verrückt sind, und daß die Handlungen, welche den Regeln dieses Spiels konform gehen, faktisch alle ruinieren. Der Antrieb der Kafkaschen Helden sind nicht irgendwelche revolutionäre Überzeugungen; er ist einzig und allein der gute Wille, der, fast ohne es zu wissen oder zu wollen, die geheimen Strukturen dieser Welt bloßlegt.
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Eines der Haupt-Themen der Erzählungen Kafkas ist der Aufbau dieser Apparatur, die Beschreibung ihrer glatten Arbeitsweise, und |Arendt-III-011-00000009 die Versuche seiner Helden, sie um der einfachen menschlichen Werte willen zu zerstören. Diese namenlosen Helden sind nicht gewöhnliche Menschen, wie man sie auf der Straße1 treffen könnte, sondern vielmehr das Urbild des »gewöhnlichen Menschen« als ein Ideal von Humanität. Wie der »2vergessene Mensch«3 aus Chaplin’s Filmen, so wurde auch Kafkas »gewöhnlicher Mensch« von einer Gesellschaft vergessen, die aus großen4 und kleinen Leuten besteht. Denn der Antrieb seiner Handlungen ist sein guter Wille, im Gegensatz zu dem der Gesellschaft, mit der er uneins ist; dem Funktionieren. Dieser gute Wille, für den der Held nur zum Beispiel dient, hat auch seine Funktion. Auf beinahe unschuldige Weise enthüllt er die verborgene Struktur der Gesellschaft, die offenbar die einfachsten Bedürfnisse des Menschen vereitelt und seine besten Vorsätze zerstört. Er enthüllt auch den falschen Aufbau einer Welt, in der der Mensch guten Willens, der keine erfolgreiche Laufbahn ergreifen will, einfach verloren ist. Er hilft diese Seiten der Wohlanständigkeit aufdecken, bevor sie tatsächlich in Stücke gerissen wird.5
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Eines der Haupt-Themen der Erzählungen Kafkas ist der Aufbau dieser Apparatur, die Beschreibung ihrer glatten Arbeitsweise, und die Versuche seiner Helden, sie um der einfachen menschlichen Werte willen zu zerstören. Diese namenlosen Helden sind nicht gewöhnliche Menschen, wie man sie auf der Strasse1 treffen könnte, sondern vielmehr das Urbild des »gewöhnlichen Menschen« als ein Ideal von Humanität. Wie der vergessene Mensch aus Chaplin’s Filmen, so wurde auch Kafkas »gewöhnlicher Mensch« von einer Gesellschaft vergessen, die aus grossen4 und kleinen Leuten besteht. Denn der Antrieb seiner Handlungen ist sein guter Wille, im Gegensatz zu dem der Gesellschaft, mit der er uneins ist; dem Funktionieren. Dieser gute Wille, für den der Held nur zum Beispiel dient, hat auch seine Funktion.
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Der Eindruck der1 Unwirklichkeit und Modernität, den wir bei Kafkas Erzählungen bekommen, beruht2 hauptsächlich darauf, daß sein höchstes3 Interesse diesem Funktionieren gilt, daß er Ansichten überhaupt aufs äußerste vernachlässigt und daß er sich nicht für das Äußere und die Erscheinung4 der Welt interessiert5. Es ist darum ein Mißverständnis6, ihn7 zu den Surrealisten zu zählen. Während der Surrealist versucht, so viele und widersprechende Ansichten der Wirklichkeit als möglich zu zeigen, erfindet Kafka frei die Ansichten11, die sich auf jenes Funktionieren beziehen12, und dieses bleibt sein Hauptanliegen. Während die Lieblingsmethode des13 Surrealisten immer die Photomontage ist,14 könnte man Kafkas Technik am besten16 mit der Konstruktion eines Modells17 vergleichen. Wenn18 ein Mann ein Haus bauen will oder wenn er ein21 Haus gut genug kennen will22, um seine Festigkeit zu beurteilen23, wird er sich eine Blaupause des Gebäudes anfertigen oder sich eine beschaffen. Kafkas Erzählungen sind solche Aufrisse; sie sind in gewissem Sinn24 eher das Ergebnis eines Denkprozesses als das bloßer Sinneserfahrung25. Mit einem wirklichen Haus verglichen ist ein Aufriß natürlich nur etwas sehr Unwirkliches; aber ohne Aufriß könnte das Haus26 nicht entstanden sein27, noch könnte man28 die Grundmauern und29 Konstruktionen erkennen30, die es zum wirklichen Haus machen31. Dieselbe Vorstellung - nämlich32 die nach Kants Worten33 »eine zweite Natur aus dem Stoff der wirklichen Natur« schöpft - soll zum Bau des Hauses wie zu seinem Verständnis benutzt werden. Aufrisse |Arendt-III-011-00000010 können34 nur von denen verstanden werden, die fähig und willig35 sind, sich mit eigener Phantasie die wirklichen Absichten und die zukünftige Ansicht36 vorzustellen.
Der Effekt von1 Unwirklichkeit und Neuartigkeit in der Kafkaschen Kunst des Erzählens ist2 hauptsächlich seinem3 Interesse an diesen verdeckten Strukturen und seiner radikalen Desinteressiertheit an den Fassaden, an den Aspekten und dem rein Phänomenalen4 der Welt geschuldet5. Es ist darum ganz falsch6, Kafka7 zu den Surrealisten zu zählen. Während der Surrealist versucht, so viele und widersprechende Aspekte und8 Ansichten der Wirklichkeit als möglich zu zeigen, erfindet Kafka solche Aspekte völlig9 frei, verläßt sich hier nie auf10 die Wirklichkeit11, weil sein eigentliches Anliegen nicht Wirklichkeit12, sondern Wahrheit ist. Im Gegensatz zu der bei allen13 Surrealisten so beliebten Technik der Photomontage14 könnte man Kafkas Technik noch15 am ehesten16 mit der Konstruktion von Modellen17 vergleichen. So wie18 ein Mann, der19 ein Haus bauen oder eines Hauses Stabilität beurteilen20 will, sich einen Grundriß des Gebäudes anfertigen wird, so konstruiert sich Kafka gleichsam die Grundrisse der bestehenden Welt. Mit einem wirklichen21 Haus verglichen ist sein Grundriß natürlich etwas sehr »Unwirkliches«; aber ohne ihn hätte man das Haus nicht bauen können22, ohne ihn kann man die Grundmauern und Pfeiler nicht erkennen23, die allein ihm in der wirklichen Welt Bestand verleihen. Aus diesem von der Wirklichkeit her konstruierten Grundriß, dessen Auffindung natürlich sehr viel24 eher das Ergebnis eines Denkprozesses als einer Sinneserfahrung ist, baut Kafka seine Modelle25. Zu ihrem Verständnis bedarf der Leser der gleichen Einbildungskraft, die am Werke war, als sie entstanden, und er kann dies Verständnis aus der Einbildungskraft her leisten, weil es sich hier26 nicht um freie Phantasie27, sondern um Resultate des Denkens selbst handelt,28 die als Elemente für die Kafkaschen29 Konstruktionen benutzt werden. Zum ersten Male in der Geschichte der Literatur verlangt ein Künstler von seinem Leser das Wirken der gleichen Aktivität30, die ihn und sein Werk trägt31. Und diese ist nichts anderes als jene Einbildungskraft,32 die nach Kant33 »sehr mächtig (ist) in Schaffung gleichsam einer anderen Natur aus dem |Arendt-III-001-00000142 Stoffe, den ihr die wirkliche gibt«. So können auch Grundrisse34 nur von denen verstanden werden, die fähig und willens35 sind, sich die Absichten des Architekten und die zukünftigen Aspekte des Gebäudes lebendig36 vorzustellen.
Der Eindruck der1 Unwirklichkeit und Modernität, den wir bei Kafkas Erzählungen bekommen, beruht2 hauptsächlich darauf, daß sein höchstes3 Interesse diesem Funktionieren gilt, daß er Ansichten überhaupt aufs äusserste vernachlässigt und dass er sich nicht für das Äussere und die Erscheinung4 der Welt interessiert5. Es ist darum ein Mißverständnis6, ihn7 zu den Surrealisten zu zählen. Während der Surrealist versucht, so viele und widersprechende Ansichten der Wirklichkeit als möglich zu zeigen, erfindet Kafka frei die Ansichten11, die sich auf jenes Funktionieren beziehen12, und dieses bleibt sein Hauptanliegen. Während die Lieblingsmethode des13 Surrealisten immer die Photomontage ist,14 könnte man Kafkas Technik am besten16 mit der Konstruktion eines Modells17 vergleichen. Wenn18 ein Mann ein Haus bauen will oder wenn er ein21 Haus gut genug kennen will22, um seine Festigkeit zu beurteilen23, wird er sich eine Blaupause des Gebäudes anfertigen oder sich eine beschaffen. Kafkas Erzählungen sind solche Aufrisse; sie sind in gewissem Sinn24 eher das Ergebnis eines Denkprozesses als das bloßer Sinneserfahrung25. Mit einem wirklichen Haus verglichen ist ein Aufriß natürlich nur etwas sehr Unwirkliches; aber ohne Aufriß könnte das Haus26 nicht entstanden sein27, noch könnte man28 die Grundmauern und29 Konstruktionen erkennen30, die es zum wirklichen Haus machen31. Dieselbe Vorstellung – nämlich32 die nach Kants Worten33 »eine zweite Natur aus dem Stoff der wirklichen Natur« schöpft – soll zum Bau des Hauses wie zu seinem Verständnis benutzt werden. Aufrisse können34 nur von denen verstanden werden, die fähig und willig35 sind, sie mit eigener Phantasie die wirklichen Absichten und die zukünftige Ansicht36 vorzustellen.
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Diese Mühe wirklicher1 Einbildungskraft, wird von Kafkas Lesern2 verlangt. Daher ist3 der gewöhnliche rezeptive Romanleser4, dessen einzige Tätigkeit darin besteht, sich6 mit einer der Figuren zu identifizieren, völlig verloren, wenn er Kafka liest. Der neugierige7 Leser, der aus einer gewissen8 Enttäuschung im Leben einen Ersatz in der romantischen Welt des Romans sucht, wo9 Dinge geschehen, die sich nie10 in seinem Leben zutragen11, wird sich durch Kafka noch mehr als durch sein eignes Leben enttäuscht fühlen. Denn in Kafkas Büchern findet sich keine Spur12 von Tagträumen oder Wunscherfüllung. Nur der Leser13, dem das Leben14, die Welt und der Mensch so kompliziert und von solch schrecklichem Interesse erscheinen, daß er Wahrheiten über sie erfahren möchte und15 der sich deswegen den Schriftstellern zuwendet16, um Einsicht in uns allen gemeinsame Erlebnisse zu gewinnen17, mag zu Kafka18 und seinen Aufrissen greifen; sie legen19 manchmal auf einer Seite oder sogar in einem einzigen Satze das nackte Gefüge des Geschehens bloß. Im Lichte dieser Erwägungen können wir eine der einfachsten Erzählungen Kafkas betrachten, und zwar eine sehr charakteristische, sie heißt:21
Es ist diese Anstrengung einer realen1 Einbildungskraft, die Kafka überall vom Leser2 verlangt. Deshalb kann3 der rein passive Leser4, wie er von der Tradition des Romans erzogen und gebildet wurde, und5 dessen einzige Aktivität in der Identifikation6 mit einer der Romanfiguren besteht, mit Kafka so wenig anfangen. Das gleiche gilt für den neugierigen7 Leser, der aus Enttäuschung über sein eigenes Leben Umschau hält nach einer Ersatzwelt, in der9 Dinge geschehen, die in seinem Leben durchaus nicht vorkommen wollen11, oder aus echter Wissensbegierde nach Belehrung ausschaut. Kafkas Erzählungen werden ihn noch mehr enttäuschen als sein eigenes Leben; sie enthalten keinerlei Elemente12 von Tagträumen, und sie bieten weder Rat13, noch Belehrung14, noch Trost. Nur der Leser, der, aus welchen Gründen und in welcher Unbestimmtheit auch immer, selbst auf15 der Suche nach Wahrheit ist16, wird mit Kafka und seinen Modellen etwas anzufangen wissen17, und er wird dankbar sein, wenn19 manchmal auf einer einzigen20 Seite oder sogar in einem einzigen Satz plötzlich die nackte Struktur ganz banaler Ereignisse sichtbar wird.21
Diese Mühe wirklicher1 Einbildungskraft wird von Kafkas Lesern2 verlangt. Daher ist3 der gewöhnliche rezeptive Romanleser4, dessen einzige Tätigkeit darin besteht, sich6 mit einer der Figuren zu identifizieren, völlig verloren, wenn er Kafka liest. Der neugierige7 Leser, der aus einer gewissen8 Enttäuschung im Leben einen Ersatz in der romantischen Welt des Romans sucht, wo9 Dinge geschehen, die sich nie10 in seinem Leben zutragen11, wird sich durch Kafka noch mehr als durch sein eignes Leben enttäuscht fühlen. Denn in Kafkas Büchern findet sich keine Spur12 von Tagträumen oder Wunscherfüllung. Nur der Leser13, dem das Leben14, die Welt und der Mensch so kompliziert und von solch schrecklichem Interesse erscheinen, daß er Wahrheiten über sie erfahren möchte und15 der sich deswegen den Schriftstellern zuwendet16, um Einsicht in uns allen gemeinsame Erlebnisse zu gewinnen17, mag zu Kafka18 und seinen Aufrissen greifen; sie legen19 manchmal auf einer Seite oder sogar in einem einzigen Satze das nackte Gefüge des Geschehens bloß.21
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Charakteristisch für diese abstrahierende und nur das Wesentliche bestehenlassende Kunst ist die folgende kleine Erzählung, die noch dazu von einer besonders einfachen und häufigen Begebenheit handelt:
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Eine alltägliche Verwirrung Ein alltäglicher Vorgang: sein Ertragen eine alltägliche Verwirrung. A hat mit B aus H ein wichtiges Geschäft abzuschließen. Er geht zur Vorbesprechung nach H, legt den Hin- und Herweg in je zehn Minuten zurück und rühmt sich zu Hause dieser besonderen Schnelligkeit. Am nächsten Tag geht er wieder nach H, diesmal zum endgültigen Geschäftsabschluß. Da dieser voraussichtlich mehrere Stunden erfordern wird, geht A sehr früh morgens fort. Trotzdem7 aber alle Nebenumstände, wenigstens nach A’s8 Meinung, völlig die gleichen sind wie am Vortag, braucht er diesmal zum Weg nach H zehn Stunden. Als er dort ermüdet abends ankommt, sagt man ihm, daß B, ärgerlich wegen A’s11 Ausbleiben vor einer halben Stunde zu A in sein Dorf gegangen sei und sie sich eigentlich unterwegs hätten treffen müssen. Man rät A zu warten. A aber in Angst wegen des Geschäftes macht sich sofort auf und eilt nach Hause. Diesmal legt er den Weg, ohne besonders darauf zu achten, geradezu in einem Augenblick zurück. Zuhause16 erfährt er, B sei doch schon gleich früh gekommen - gleich nach dem Weggang A’s18, ja er habe A im Haustor getroffen, ihn an das Geschäft erinnert, aber A habe gesagt, er hätte21 jetzt keine Zeit, er müsse jetzt eiligst fort. |Arendt-III-011-00000011 Trotz dieses unverständlichen Verhaltens A’s22 sei aber B doch hier geblieben, um auf A zu warten. Er habe zwar schon oft gefragt, ob A nicht schon wieder zurück sei, befinde sich aber noch oben in A’s26 Zimmer. Glücklich darüber, B jetzt noch zu sprechen und ihm alles erklären zu können, läuft A die Treppe hinauf. Schon ist er fast oben, da stolpert er, erleidet eine Sehnenzerrung und fast ohnmächtig vor Schmerz, unfähig sogar zu schreien, nur winselnd im Dunkel hört er, wie B - undeutlich ob in großer Ferne oder knapp neben ihm - wütend die Treppe hinunterstampft und endgültig verschwindet.
Eine alltägliche Verwirrung Ein alltäglicher Vorgang: sein Ertragen eine alltägliche Verwirrung. A.1 hat mit B.2 aus H.3 ein wichtiges Geschäft abzuschließen. Er geht zur Vorbesprechung nach H.4, legt den Hin- und Herweg in je zehn Minuten zurück und rühmt sich zu Hause dieser besonderen Schnelligkeit. Am nächsten Tag geht er wieder nach H.5, diesmal zum |Arendt-III-001-00000143 endgültigen Geschäftsabschluß. Da dieser voraussichtlich mehrere Stunden erfordern wird, geht A.6 sehr früh morgens fort. Obwohl7 aber alle Nebenumstände, wenigstens nach A.s8 Meinung, völlig die gleichen sind wie am Vortag, braucht er diesmal zum Weg nach H.9 zehn Stunden. Als er dort ermüdet abends ankommt, sagt man ihm, daß B.10, ärgerlich wegen A.s11 Ausbleiben,12 vor einer halben Stunde zu A.13 in sein Dorf gegangen sei und sie sich eigentlich unterwegs hätten treffen müssen. Man rät A.14 zu warten. A.15 aber in Angst wegen des Geschäftes macht sich sofort auf und eilt nach Hause. Diesmal legt er den Weg, ohne besonders darauf zu achten, geradezu in einem Augenblick zurück. Zu Hause16 erfährt er, B.17 sei doch schon gleich früh gekommen - gleich nach dem Weggang A.s18, ja er habe A.19 im Haustor getroffen, ihn an das Geschäft erinnert, aber A.20 habe gesagt, er habe21 jetzt keine Zeit, er müsse jetzt eiligst fort. Trotz dieses unverständlichen Verhaltens A.s22 sei aber B.23 doch hier geblieben, um auf A.24 zu warten. Er habe zwar schon oft gefragt, ob A.25 nicht schon wieder zurück sei, befinde sich aber noch oben in A.s26 Zimmer. Glücklich darüber, B.27 jetzt noch zu sprechen und ihm alles erklären zu können, läuft A.28 die Treppe hinauf. Schon ist er fast oben, da stolpert er, erleidet eine Sehnenzerrung und fast ohnmächtig vor Schmerz, unfähig sogar zu schreien, nur winselnd im Dunkel hört er, wie B.29 - undeutlich ob in großer Ferne oder knapp neben ihm - wütend die Treppe hinunterstampft und endgültig verschwindet.
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Kafkas Konstruktionstechnik ist hier fast überdeutlich. Da sind erst einmal alle wesentlichen Faktoren, die gewöhnlich bei mißglückten Verabredungen ins Spiel kommen: Übereifer — A. geht zu früh fort und ist dennoch so hastig, daß er B. auf der Treppe übersieht; Ungeduld — A. wird der Weg ungeheuer lang, was zur Folge hat, daß er sich um den Weg mehr kümmert als um sein Ziel, |Arendt-III-001-00000144 nämlich B. zu treffen; Angst und Nervosität — was A. zu der unbedachten Überaktivität des Rückwegs verleitet, wo er doch ruhig die Rückkehr des B. hätte abwarten können; all dies bereitet schließlich jene wohl bekannte Tücke des Objekts vor, die vollkommenes Mißlingen immer begleitet, und das endgültige Zerfallen des Verärgerten mit der Welt überhaupt anzeigt und besiegelt. Aus diesen allgemeinen Faktoren, und nicht eigentlich aus dem Erlebnis eines spezifischen Ereignisses, konstruiert Kafka die Begebenheit. Da keine Wirklichkeit gleichsam mildernd der Konstruktion im Wege steht, können die einzelnen Elemente die ihnen innewohnende komisch-gigantische Größe annehmen, so daß auf den ersten Blick die Geschichte sich wie eine jener phantastischen Münchhausen-Geschichten liest, die Seeleute einander zu erzählen lieben. Der Eindruck der Übertreibung verschwindet erst, wenn wir die Geschichte nicht mehr als Report einer wirklichen Begebenheit lesen, nicht als den Bericht über irgend ein Ereignis, das durch Verwirrung zustande kam, sondern als das Modell der Verwirrung selbst, dessen grandiose Logik unsere eigenen begrenzten Erfahrungen mit verwirrten Ereignissen gleichsam verzweifelt nachzuahmen versuchen. Diese überaus kühne Umkehrung von Vorbild und Nachahmung, in der, einer jahrtausendalten Tradition zum Trotz, das Gedichtete plötzlich als Vorbild und die Realität als die zur Rechenschaft gezogene Nachahmung erscheint, ist eine der wesentlichen Quellen des Kafkaschen Humors und macht auch diese Geschichte so unbeschreiblich erheiternd, daß sie einen fast über alle bereits verfehlten und noch zu verfehlenden Verabredungen im Leben hinwegzutrösten vermag. Denn Kafkas Lachen ist ein unmittelbarer Ausdruck jener menschlichen Freiheit und Unbekümmertheit, die versteht, daß der Mensch mehr ist als sein Scheitern, schon weil er sich eine Verwirrung ausdenken kann, die verwirrter ist als alle wirkliche Konfusion.
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Die Technik scheint hier sehr klar zu sein. Alle wesentlichen Umstände, die zu der gewöhnlichen Erfahrung des Fehlschlagens einer Verabredung wie: Übereifer (wodurch A. zu früh fortgeht und B. auf der Treppe übersieht), falsche Konzentration auf Kleinigkeiten (A. denkt an die Reise anstatt an seinen Hauptzweck, B. zu treffen, was sie länger macht als damals, da er sie unaufmerksam zurücklegte) und endlich die typischen mutwilligen Streiche, zu denen sich Dinge und Umstände verschwören, um solches Mißlingen endgültig zu machen - sind in der Erzählung enthalten. Sie sind das Rohmaterial des Dichters. Weil seine Erzählung aus Faktoren, die zu typisch menschlichen Fehlschlägen beitragen, und nicht aus wirklichen Ereignissen bestehen, erscheinen sie zuerst als wilde und komische Übertreibung wirklicher Vorkommnisse oder wild gewordene, aber unentrinnbare Logik. Der Eindruck der Übertreibung verschwindet jedoch vollkommen, wenn wir die Geschichte als das, was sie wirklich ist, betrachten, nicht als Bericht über ein verwirrendes Ereignis, sondern als Urbild der Verwirrung selbst. Was bleibt, ist der Begriff der Verwirrung, derart dargestellt, daß es Gelächter hervorruft, eine humoristische Erregung, die gestattet, daß der Mensch seine wesenhafte Freiheit durch eine gewisse abgeklärte Überlegenheit über sein eigenes Mißlingen beweist.
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Aus dem, was bisher gesagt wurde1, geht hervor,2 daß der Romanschriftsteller Franz3 Kafka keine Romane4 im klassischen Sinn5 des Wortes, im Sinne6 des 19. Jahrhunderts, geschrieben hat7. Die Basis8 des klassischen Romans war die Anerkennung der10 Gesellschaft, Unterwerfung unter das12 Leben, wie es kommt14, die Überzeugung, daß15 Größe des Schicksals jenseits menschlicher Tugenden16 und menschlicher Laster ist. Er setzt den17 Niedergang des Staatsbürgers voraus18, der während19 der Französischen Revolution den Versuch gemacht20 hatte, die Welt nach menschlichen21 Gesetzen zu re |Arendt-III-011-00000012 gieren. Er zeigte das Wachstum22 des bürgerlichen Individuums, dem23 Leben und Welt24 Schauplatz von Ereignissen geworden war25 und das sich26 mehr Ereignisse27 und Geschehen28 wünschte, als der gewöhnlich enge und sichere29 Rahmen seines Lebens ihm bieten konnte. Heutzutage sind31 diese Schriftsteller32, die immer im Wettbewerb34 mit der Wirklichkeit standen (sogar wenn sie Wirklichkeit nachahmten) durch den Reporter ersetzt worden. In unserer Welt haben wirkliche35 Ereignisse und wirkliche Schicksale die36 Phantasie der Schriftsteller weit übertroffen37.
Aus dem Gesagten dürfte klar sein1, daß der Erzähler3 Kafka kein Romancier4 im Sinne5 des klassischen Romans6 des 19. Jahrhunderts ist7. Die Grundlage8 des klassischen Romans war ein Lebensgefühl, das9 die Welt und die10 Gesellschaft grundsätzlich akzeptierte11, das sich dem12 Leben, so13 wie es gegeben war14, unterwarf und das die15 Größe des Schicksals als Jenseits von Gut16 und Böse empfand. Die Entwicklung des klassischen Romans entsprach dem langsamen17 Niedergang des citoyen18, der in19 der Französischen Revolution und in der Kantschen Philosophie zum ersten Mal versucht20 hatte, die Welt mit von Menschen erfundenen21 Gesetzen zu regieren. Seine Blüte war begleitet von der vollen Entfaltung22 des bürgerlichen Individuums, das die Welt und das23 Leben als einen24 Schauplatz von Ereignissen betrachtete25 und das mehr Sensationen27 und Geschehnisse zu »erleben«28 wünschte, als der gewöhnlich enge und gesicherte29 Rahmen seines eigenen30 Lebens ihm bieten konnte. Alle31 diese Romanciers32, ob sie realistisch33 die Welt abmalten oder phantastisch sich andere Welten erträumten, standen in ständiger Konkurrenz34 mit der Wirklichkeit. Dieser klassische Roman hat heute in einer besonders in Amerika außerordentlich hoch entwickelten Form des Reportage-Romans geendet, was nur konsequent ist, wenn man bedenkt, daß mit der Realität heutiger35 Ereignisse und Schicksale wohl keine36 Phantasie mehr in Konkurrenz zu treten vermag37.
Aus dem, was bisher gesagt wurde1, geht hervor,2 daß der Romanschriftsteller Franz3 Kafka keine Romane4 im klassischen Sinn5 des Wortes, im Sinne6 des 19. Jahrhunderts, geschrieben hat7. Die Basis8 des klassischen Romans war die Anerkennung der10 Gesellschaft, Unterwerfung unter das12 Leben, wie es kommt14, die Überzeugung, daß15 Größe des Schicksals jenseits menschlicher Tugenden16 und menschlicher Laster ist. Er setzt den17 Niedergang des Staatsbürgers voraus18, der während19 der Französischen Revolution den Versuch gemacht20 hatte, die Welt nach menschlichen21 Gesetzen zu regieren. Er zeigte das Wachstum22 des bürgerlichen Individuums, dem23 Leben und Welt24 Schauplatz von Ereignissen geworden war25 und das sich26 mehr Ereignisse27 und Geschehen28 wünschte, als der gewöhnlich enge und sichere29 Rahmen seines Lebens ihm bieten konnte. Heutzutage sind31 diese Schriftsteller32, die immer im Wettbewerb34 mit der Wirklichkeit standen (sogar wenn sie Wirklichkeit nachahmten) durch den Reporter ersetzt worden. In unserer Welt haben wirkliche35 Ereignisse und wirkliche Schicksale die36 Phantasie der Schriftsteller weit übertroffen37.
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Das Gegenstück1 zu der Ruhe und Sicherheit2 der bürgerlichen Welt, in der3 das Individuum seinen Teil an Aufregungen5 und Ereignissen vom Leben erwartete und nie ganz genug davon bekam6, waren die großen Männer, die Genies und Ausnahmen, die in den Augen dieser selben Welt8 die wunderbare9 und geheimnisvolle Inkarnation von etwas Übermenschlichem darstellten:10 Schicksal (11wie im Falle Napoleons)12 oder Geschichte (14wie im Falle Hegels)15 oder der Ruf16 Gottes (17wie im Falle Kierkegaards, der sich für ein von Gott gesetztes Beispiel hielt und deshalb für eine18 »Ausnahme19«) oder Notwendigkeit (20wie im Falle Nietzsches, der erklärte, er sei21 eine »22Notwendigkeit«)23. Die höchste Idee24 des Menschen25 war der Mensch mit einer Mission26, einem Ruf, den er zu erfüllen hatte. Je größer die Mission, desto größer der Mensch. Das Einzige27, was28 der Mensch, als solche Inkarnation des Übermenschlichen aufgefaßt, ereichen konnte,29 war der »amor fati« (Nietzsche), die Liebe zum Schicksal, die bewußte Identifizierung mit dem, was ihm widerfuhr30. Größe wurde31 nicht mehr in dem geleisteten Werk32, sondern im33 Menschen selbst gesucht34; Genie galt nicht mehr als Gabe der Götter, Menschen verliehen, die wesentlich sie selber blieben. Die ganze Persönlichkeit war eine Inkarnation des Genies geworden und wurde als solches, nicht mehr als gewöhnlicher Mensch betrachtet. Kant35, der im Wesentlichen der Philosoph der Französischen Revolution war, definierte Genie noch als »36die angeborene Gemütsanlage37, durch welche die38 Natur der Kunst die Regel gibt39«. Ich stimme40 dieser Definition nicht bei41, ich glaube vielmehr42, daß Genie die Anlage ist, durch die die Menschheit der44 Kunst die Regel gibt. Aber das45 ist unwesentlich. Denn was uns46 in Kants47 Definition und in seiner weiteren Erklärung auffällt, ist das völlige Fehlen jener48 leeren Größe, die während des gesamten neunzehnten Jahrhunderts das Genie zum Vorläufer des Übermenschen49, einer Art von Ungeheuer, gemacht hat50.
Das Pendant1 zu der ruhigen Sekurität2 der bürgerlichen Welt, in welcher3 das Individuum dem Leben4 seinen ihm zukommenden Anteil abverlangte5 und dennoch nie ganz genug bekommen konnte an Ereignissen und Sensationen6, waren die großen Männer, die Genies und die7 Ausnahmen, die in den Augen der gleichen bürgerlichen Individuen8 die herrliche9 und geheimnisvolle Inkarnation von etwas Übermenschlichem repräsentierten, das man »10Schicksal« nennen konnte,11 wie im Falle Napoleons,12 oder »13Geschichte«,14 wie im Falle Hegels,15 oder den Willen16 Gottes,17 wie im Falle Kierkegaards, der behauptete, Gott habe an ihm ein Exempel statuieren wollen, oder18 |Arendt-III-001-00000146 »Notwendigkeit19«,20 wie im Falle Nietzsches, der sich »21eine Notwendigkeit« nannte23. Die höchste Sensation24 des Erlebnis-Hungrigen25 war das Erlebnis des Schicksals selber26, und der höchste Typus des Menschen war daher der Mensch, der ein Schicksal, eine Mission, eine Berufung hatte27, der er nur diente, beziehungsweise deren Vollzug er war. Groß29 war daher nicht mehr eigentlich ein Werk oder eine Leistung; groß wurde der Mensch selbst, nämlich als Inkarnation von etwas Übermenschlichem30. Genie war31 nicht mehr eine Gabe der Götter32, verliehen an33 Menschen, die doch deshalb immer noch menschlich blieben34; die gesamte Person wurde eine einzige Verkörperung von Genie und konnte daher nicht länger ein gewöhnlicher Sterblicher sein. Daß diese Vorstellung vom Genie als einer Art übermenschlichen Monsters durchaus dem 19. Jahrhundert und keiner früheren Epoche eigen war35, kann man noch deutlich in Kants Definition des Genies sehen. Für ihn ist Genie36 die Gabe37, durch die »38Natur der Kunst die Regel vorschreibt39«; man kann mit40 dieser Naturkonzeption heute streiten41, und man mag meinen42, daß im43 Genie die Menschheit selbst der »44Kunst die Regel vorschreibt«; wesentlich45 ist hier nur, daß46 in dieser47 Definition des 18. Jahrhunderts noch nichts von der48 leeren Größe, die unmittelbar nach Kant in der Romantik bereits ihr Unwesen trieb49, zu spüren ist50.
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Was Kafka so modern und zugleich als2 so seltsam3 unter seinen Zeitgenossen der Vorkriegswelt5 erscheinen läßt6, ist gerade seine Wei |Arendt-III-011-00000013 gerung, Dinge an sich »geschehen« zu lassen (zum Beispiel7 wollte er nicht, daß ihm eine Ehe »widerführe«, wie es bei den Meisten ist), er mochte9 die Welt nicht10, wie sie ihm12 gegeben war13, er mochte nicht einmal die Natur (deren Stabilität14 nur so lange besteht15, wie wir sie16 in Frieden lassen)17. Er wollte eine Welt in Übereinstimmung mit menschlichen Bedürfnissen und menschlicher Würde aufbauen, eine18 Welt, in der die Tätigkeit19 des Menschen von ihm selbst bestimmt22 und die durch seine25 Gesetze regiert wird, nicht durch geheimnisvolle Kräfte27, die von oben28 oder unten ausströmen29. Zudem war es sein brennendster Wunsch30, einer solchen31 Welt anzugehören32, es lag ihm nichts daran, ein Genie oder die Inkarnation irgend einer Größe zu sein33.
Was Kafka persönlich1 so modern und zu gleicher Zeit2 so fremdartig3 unter seinen Zeitgenossen und in seinem Milieu4 der Prager und Wiener Literaten5 erscheinen läßt6, ist gerade, daß er so offensichtlich nicht ein Genie oder die Verkörperung irgendeiner objektiven Größe sein7 wollte und daß8 er andererseits so leidenschaftlich sich weigerte, sich irgendwelchem Schicksal einfach zu unterwerfen. Er war in keiner Weise mehr in9 die Welt verliebt10, so11 wie sie uns12 gegeben ist13, und selbst von der Natur meinte er, daß ihre Überlegenheit über den Menschen14 nur so lange bestehe15, »als ich Euch16 in Ruhe lasse«17. Ihm ging es um eine mögliche, von Menschen erbaute18 Welt, in der des Menschen Handlungen20 von nichts abhängen als von21 ihm |Arendt-III-001-00000147 selbst, seiner eigenen Spontaneität,22 und in der23 die menschliche Gesellschaft24 durch von Menschen vorgeschriebene25 Gesetze regiert wird, und26 nicht durch geheimnisvolle Mächte27, gleich ob sie als höhere28 oder niedere Mächte interpretiert werden29. Und in einer solchen, nicht mehr erträumten30, sondern unmittelbar zu konstruierenden31 Welt wollte er32, Kafka, bei Leibe keine Ausnahme sein, sondern ein Mitbürger, ein »Gemeindemitglied«33.
Was Kafka so modern und zugleich als2 so seltsam3 unter seinen Zeitgenossen der Vorkriegswelt5 erscheinen lässt6, ist gerade seine Weigerung, Dinge an sich »geschehen« zu lassen (zum Beispiel7 wollte er nicht, daß ihm eine Ehe »widerführe«, wie es bei den Meisten ist), er mochte9 die Welt nicht10, wie sie ihm12 gegeben war13, er mochte nicht einmal die Natur (deren Stabilität14 nur so lange besteht15, wie wir sie16 in Frieden lassen)17. Er wollte eine Welt in Übereinstimmung mit menschlichen Bedürfnissen und menschlicher Würde aufbauen, eine18 Welt, in der die Tätigkeit19 des Menschen von ihm selbst bestimmt22 und die durch seine25 Gesetze regiert wird, nicht durch geheimnisvolle Kräfte27, die von oben28 oder unten ausströmen29. Zudem war es sein brennendster Wunsch30, einer solchen31 Welt anzugehören32, es lag ihm nichts daran, ein Genie oder die Inkarnation irgend einer Größe zu sein33.
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Dies bedeutet1 natürlich nicht -2 wie manchmal behauptet3 wird -4, daß Kafka5 bescheiden gewesen wäre6. Er7 hat einmal,8 in aufrichtigem Erstaunen, in seinem Tagebuch9 notiert: »Jeder10 Satz, den ich schreibe, hat Vollendung« - eine einfache Feststellung der Wahrheit, die aber sicher nicht von einem bescheidenen Menschen herrührt11. Er12 war nicht bescheiden, er war13 demütig.
Dies heißt1 natürlich nicht, daß er,2 wie manchmal angenommen3 wird, bescheiden gewesen sei6. Immerhin7 hat er einmal8 in seine Tagebücher mit echtem Erstaunen9 notiert, daß jeder10 Satz, wie er ihn zufällig niederschreibe, auch schon vollkommen sei - was der einfachen Wahrheit entspricht11. Kafka12 war nicht bescheiden, sondern13 demütig.
Dies bedeutet1 natürlich nicht 2 wie manchmal behauptet3 wird 4, daß Kafka5 bescheiden gewesen wäre6. Er7 hat einmal,8 in aufrichtigem Erstaunen, in seinem Tagebuch9 notiert: »Jeder10 Satz, den ich schreibe, hat Vollendung« – eine einfache Feststellung, der Wahrheit, die aber sicher nicht von einem bescheidenen Menschen herrührt11. Er12 war nicht bescheiden, er war13 demütig.
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Um Teil1 einer solchen Welt zu werden (3wie er sie vorsichtig am Schluß4, dem »5happy end«, seines dritten Romanes6 Amerika zu beschreiben versuchte),8 mußte er zuerst9 die Zerstörung der fehlkonstruierten10 Welt vorwegnehmen11. Durch diese vorweggenommene Zerstörung trug er das Bild, die höchste Gestalt12 des Menschen als Modell13 guten Willens, des Menschen als »fabricator mundi«, des Welterbauers14, der die Fehlkonstruktion beseitigen15 und seine Welt neu aufbauen16 kann. Weil aber diese Helden nur Modelle17 guten Willens sind und im Anonymen und in der Abstraktheit des Allgemeinen bleiben und nur in der Funktion18, die der gute Wille in unserer Welt haben könnte, gezeigt werden19, deswegen scheinen seine Romane eine einzigartige Anziehung zu besitzen20, so als ob er sagen wollte:21 dieser Mensch22 guten Willens könnte irgendwer und jedermann sein23, vielleicht sogar du und ich.
Um wenigstens im Entwurf Mitbürger1 einer solchen, von allem blutigen Spuk und mörderischen Zauber befreiten2 Welt zu werden, -3 wie er sie versuchsweise in Amerika4, dem happy end von6 Amerika zu beschreiben suchte -8 mußte er notwendigerweise9 die Zerstörung der gegenwärtigen10 Welt antizipieren11. Seine Romane sind eine solche antizipierte Destruktion, durch deren Ruinen er das erhabene Bild12 des Menschen als eines Modells des13 guten Willens trägt, der wahrhaft Berge versetzen kann und Welten erbauen14, der die Zerstörung aller Fehlkonstruktionen15 und die Trümmer aller Ruinen ertragen16 kann, weil ihm die Götter, wenn er nur17 guten Willens ist, ein unzerstörbares Herz gegeben haben. Und da diese Kafkaschen Helden nicht wirkliche Personen sind18, mit denen es hybrid wäre sich zu identifizieren, da sie nur Modelle sind und belassen in Anonymität19, auch wenn sie bei Namen genannt werden, scheint es uns20, als sei jeder von uns angerufen und aufgerufen. Denn21 dieser, der22 guten Willens ist, kann irgendeiner sein und jedermann23, vielleicht sogar du und ich.
Um Teil1 einer solchen Welt zu werden (3wie er sie vorsichtig am Schluß4, dem »5happy end«, seines dritten Romanes »6Amerika«7 zu beschreiben versuchte),8 mußte er zuerst9 die Zerstörung der fehlkonstruierten10 Welt vorwegnehmen11. Durch diese vorweggenommene Zerstörung trug er das Bild, die höchste Gestalt12 des Menschen als Modell13 guten Willens, des Menschen als »fabricator mundi«, des Welterbauers14, der die Fehlkonstruktion beseitigen15 und seine Welt neu aufbauen16 kann. Weil aber diese Helden nur Modelle17 guten Willens sind und im Anonymen und in der Abstraktheit des Allgemeinen bleiben und nur in der Funktion18, die der gute Wille in unserer Welt haben könnte, gezeigt werden19, deswegen scheinen seine Romane eine einzigartige Anziehung zu besitzen20, so als ob er sagen wollte:21 dieser Mensch22 guten Willens könnte irgendwer und jedermann sein23, vielleicht sogar du und ich.
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1 Mitgeteilt im Anhang der dritten Ausgabe des »Schlosses«, New York 1946.
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2 Die »geschichtsphilosophischen Thesen« sind das letzte Werk des Schriftstellers Walter Benjamin, der 1940 an der spanisch-französischen Grenze auf seinem Wege in die zweite Emigration nach Amerika in den Selbstmord getrieben wurde.
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