Franz Kafka von neuem gewürdigt (Wandlung, 1945-1946) | Franz Kafka (Sechs Essays, 1948) | Franz Kafka von neuem gewürdigt (Radiovortrag, 1948) |
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[absent] | Als Franz Kafka, ein Jude deutscher Sprache aus Prag, einundvierzigjährig im Sommer des Jahres 1924 an der Schwindsucht starb, war sein Werk nur einem kleinen Kreis von Schriftstellern und einem noch kleineren Kreis von Lesern bekannt. Seither ist sein Ruf langsam und stetig gewachsen; in den zwanziger Jahren war er bereits einer der wichtigsten Autoren der Avantgarde in Deutschland und Österreich; in den dreißiger und vierziger Jahren erreichte sein Werk genau die gleichen Leser- und Schriftstellerschichten in Frankreich, England und Amerika. Die spezifische Qualität seines Ruhmes änderte sich in |Arendt-III-001-00000127 keinem Lande und in keinem Jahrzehnt: immer wieder stand die Auflagenhöhe seiner Werke in keinem Verhältnis zu der immer noch anwachsenden Literatur über ihn oder zu dem immer noch sich vertiefenden und verbreiternden Einfluß, den dieses Werk auf die Schriftsteller der Zeit ausübt. Es ist durchaus charakteristisch für die Wirkung der Kafkaschen Prosa, daß die verschiedensten »Schulen« ihn für sich in Anspruch zu nehmen suchen; es ist, als ob niemand, der sich für »modern« hält, an diesem Werke vorbeigehen könnte, weil hier so offenbar etwas spezifisch Neues am Werk ist, das nirgendwo sonst in der gleichen Intensität und mit der gleichen rücksichtslosen Einfachheit bisher zu Tage getreten ist. | [absent] |
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[absent] | Dies ist sehr überraschend, weil Kafka im Gegensatz zu anderen modernen Autoren sich von allen Experimenten und allen Manierismen fern gehalten hat. Seine Sprache ist klar und einfach wie die Sprache des Alltags, nur gereinigt von Nachlässigkeit und Jargon. Zu der unendlichen Vielfalt möglicher Sprachstile verhält sich das Kafkasche Deutsch wie Wasser sich verhält zu der unendlichen Vielfalt möglicher Getränke. Seine Prosa scheint durch nichts Besonderes ausgezeichnet, sie ist nirgends in sich selbst bezaubernd oder betörend; sie ist vielmehr reinste Mitteilung und ihr einziges Charakteristikum ist, daß - sieht man genauer zu - es sich immer wieder herausstellt, daß man dies Mitgeteilte einfacher und klarer und kürzer keinesfalls hätte mitteilen können. Der Mangel an Manieriertheit ist hier fast bis an die Grenze der Stillosigkeit, der Mangel an Verliebtheit in Worte als solche fast bis an die Grenze der Kälte getrieben. Kafka kennt keine Lieblingsworte, keine bevorzugten syntaktischen Konstruktionen. Das Resultat ist eine neue Art der Vollkommenheit, die von allen Stilen der Vergangenheit gleich weit entfernt zu sein scheint. | [absent] |
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[absent] | Es gibt in der Geschichte der Literatur kaum ein überzeugenderes Beispiel für die Verkehrtheit der Theorie vom »verkannten Genie« als die Tatsache des Kafkaschen Ruhmes. In diesem Werk gibt es nicht eine Zeile |Arendt-III-001-00000128 und nicht eine einzige Geschichts-Konstruktion, die dem Leser, so wie er sich im Verlauf des vorigen Jahrhunderts herausgebildet hat, in seiner Suche nach »Unterhaltung und Belehrung« (Broch) entgegenkäme. Das einzige, was den Leser in Kafkas Werk lockt und verlockt, ist die Wahrheit selbst, und diese Verlockung ist Kafka in seiner stil-losen Vollkommenheit -- jeder »Stil« würde durch seinen eigenen Zauber von der Wahrheit ablenken -- bis zu dem unglaublichen Grade geglückt, daß seine Geschichten auch dann in Bann schlagen, wenn der Leser ihren eigentlichen Wahrheitsgehalt erst einmal nicht begreift. Kafkas eigentliche Kunst besteht darin, daß der Leser eine unbestimmte, vage Faszination, die sich mit der unausweichlich klaren Erinnerung an bestimmte, erst scheinbar sinnlose Bilder und Begebenheiten paart, so lange aushält und sie so entscheidend in sein Leben mitnimmt, daß ihm irgendwann einmal, auf Grund irgendeiner Erfahrung plötzlich die wahre Bedeutung der Geschichte sich enthüllt mit der zwingenden Leuchtkraft der Evidenz. | [absent] |
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[absent] | Als K. merkt, daß solche Verfahren trotz ihrer Sinnlosigkeit nicht unbedingt ergebnislos zu verlaufen brauchen, nimmt er sich einen Rechtsanwalt, der ihm in langen Reden auseinandersetzt, auf welche Weise man sich den bestehenden Zuständen anpassen kann und wie unvernünftig es sei, sie zu kritisieren. K., der sich nicht fügen will und seinen Advokaten entläßt, trifft mit dem Gefängnisgeistlichen zusammen, der ihm die verborgene Größe des Systems predigt und ihm anrät, nicht mehr nach der Wahrheit zu fragen, denn »man muß nicht alles für wahr halten, man muß es nur für notwendig halten«. Mit anderen Worten, wenn der Advokat sich nur bemühte zu demonstrieren: So ist die Welt, hat der von dieser Welt angestellte Geistliche die Aufgabe zu erweisen: Dies ist die Weltordnung. Und da K. dies für eine »trübselige Meinung« hält und erwidert: »Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht«, ist es klar, daß er seinen Prozeß verlieren wird; da andererseits dies nicht »sein Endurteil« war und er versuchte, die »ungewohnten Gedankengänge« als »unwirkliche Dinge«, die ihn im Grunde nichts angingen, abzuweisen, verliert er nicht nur den Prozeß, sondern verliert ihn auf eine schmähliche Weise, so daß er schließlich der Hinrichtung nichts entgegenzusetzen hat als seine Scham. | [absent] |
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[absent] | Die Macht der Maschine, die K. ergreift und umbringt, ist nichts anderes als Schein der Notwendigkeit, der sich realisieren kann durch die Bewunderung der Menschen für Notwendigkeit. Die Maschine kommt in Gang, weil Notwendigkeit für etwas Erhabenes gehalten wird und weil ihr Automatismus, der nur von Willkür unterbrochen wird, für das Sinnbild der Notwendigkeit |Arendt-III-001-00000130 genommen wird. Die Maschine wird in Gang gehalten durch die Lügen um der Notwendigkeit willen, so daß in voller Konsequenz ein Mann, der sich nicht dieser »Weltordnung«, dieser Maschinerie unterwerfen will, als Verbrecher gegen eine Art göttlicher Ordnung angesehen wird. Solche Unterwerfung ist dann erreicht, wenn die Frage nach Schuld und Unschuld völlig verstummt und an ihre Stelle die Entschlossenheit getreten ist, die von der Willkür befohlene Rolle im Spiel der Notwendigkeit zu spielen. | [absent] |
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Daß der Prozeß eine Kritik der bürokratischen Regierungsform | Daß der Prozeß eine Kritik der bürokratischen Regierungsform | [absent] |
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[absent] | Daß solche Irrtümer möglich waren -- und dies Mißverständnis ist nicht weniger fundamental, wenn auch weniger vulgär, als das Mißverständnis der psychoanalytischen Auslegungen Kafkas --, liegt natürlich im Werke Kafkas selber. Kafka beschreibt wirklich eine Gesellschaft, die sich für die Stellvertretung Gottes auf Erden hält und schildert Menschen, welche die Gesetze solch einer Gesellschaft als göttliche Gebote betrachten -- unwandelbar durch menschlichen Willen. Das Böse der Welt, in die Kafkas Helden sich verstricken, ist gerade ihre Vergottung, ihre Anmaßung, eine göttliche Notwendigkeit darzustellen. Kafka ist darauf aus, diese Welt zu zerstören, indem er ihre scheußliche Struktur überdeutlich nachzeichnet und so Wirklichkeit und Anspruch einander gegenüberstellt. Aber der Leser der zwanziger Jahre, bezaubert von Paradoxen, verwirrt von dem Spiel der Gegensätze als solchen, wollte auf Vernunft nicht hören. Seine Auslegungen von Kafka offenbarten mehr über ihn selbst als über Kafka; in seiner naiven Bewunderung einer Welt, die Kafka in solcher Überdeutlichkeit als unerträglich scheußlich dargestellt hatte, enthüllte er seine eigene Eignung für die »Weltordnung«, enthüllte er, wie eng die sogenannte Elite und Avantgarde dieser Weltordnung verbunden waren. Die sarkastisch-bittere Bemerkung Kafkas über die verlogene Notwendigkeit und das notwendige Lügen, die zusammen die »Göttlichkeit« dieser Weltordnung ausmachen, und welche so deutlich den eigentlichen Schlüssel zu der Konstruktion der Romanhandlung darstellt, wurde einfach übersehen. | [absent] |
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[absent] | Trotz der Furcht der Dorfbewohner, die jeden |Arendt-III-001-00000135 Augenblick eine Katastrophe für K. befürchten, passiert ihm eigentlich gar nichts. Er erreicht allerdings auch nichts, und der nur mündlich von Kafka mitgeteilte Schluß sah seinen Tod aus Erschöpfung - also einen völlig natürlichen Tod - vor. Das Einzige, was K. erreicht, erreicht er ohne Absicht; es gelingt ihm, nur durch seine Haltung und seine Beurteilung der um ihn herum vorgehenden Dinge, einigen der Dorfbewohner die Augen zu öffnen: »Du hast einen erstaunlichen Überblick... manchmal hilfst du mir mit einem Wort, es ist wohl, weil du aus der Fremde kommst. Wir dagegen, mit unsern traurigen Erfahrungen und fortwährenden Befürchtungen erschrecken ja, ohne uns dagegen zu wehren, schon über jedes Knacken des Holzes, und wenn der eine erschrickt, erschrickt auch gleich der andere und weiß nun nicht einmal den richtigen Grund. Auf solche Weise kann man zu keinem richtigen Urteil kommen... Was für ein Glück ist es für uns, daß du gekommen bist.« K. wehrt sich gegen diese Rolle; er ist nicht als »Glücksbringer« gekommen, er hat keine Zeit und keine überflüssige Kraft, um andern zu helfen; wer solches von ihm geradezu verlangt, »verwirrte seine Wege«1 Er will nichts als sein eigenes Leben in Ordnung bringen und in Ordnung halten. Da er im Verfolg dieses Vorhabens, anders als der K. des Prozeß, sich nicht dem scheinbar Notwendigen unterwirft, wird nicht Scham, sondern Erinnerung der Dorfbewohner ihn überleben. | [absent] |
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[absent] | Kafkas Welt ist zweifellos eine furchtbare Welt. Daß sie mehr als ein Albtraum ist, daß sie vielmehr strukturell der Wirklichkeit, die wir zu erleben gezwungen wurden, unheimlich adäquat ist, wissen wir heute vermutlich besser als vor zwanzig Jahren. Das Großartige dieser Kunst liegt darin beschlossen, daß sie heute noch so |Arendt-III-001-00000136 erschütternd wirken kann wie damals, daß der Schrecken der Strafkolonie durch die Realität der Gaskammern nichts an Unmittelbarkeit eingebüßt hat. | [absent] |
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K.s hartnäckige Zielstrebigkeit öffnet jedoch einigen Dorfbewohnern die Augen; sein Benehmen zeigt ihnen, daß Menschenrechte wert sein können, erkämpft zu werden und daß die Herrschaft des Schlosses nicht göttliches Gebot ist und darum angegriffen werden kann. Er läßt sie erkennen, daß Menschen, die unsere Erfahrungen |Arendt-III-011-00000006 durchgemacht haben, die von unserer Furcht heimgesucht wurden, die bei jedem Klopfen zittern, daß solche Menschen die Dinge nicht im rechten Verhältnis sehen können, so etwa drücken sie sich aus. Und sie fügen hinzu: »wie froh sind wir, daß du zu uns kamst«! Doch der Kampf des Fremden hatte nur den Erfolg, ein Beispiel zu geben. Sein Kampf endet mit seinem Tod durch Erschöpfung - ein vollkommen natürlicher Tod. Aber da er, anders als der Kafka des Prozeß, sich nicht dem unterwarf, was scheinbar notwendig war, gibt es keine Scham, die ihn überlebt. | [absent] | [absent] |
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Wäre Kafkas | Wäre Kafkas | [absent] |
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»Der Engel der Geschichte ... | »Der Engel der Geschichte... | [absent] |
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[absent] | Wenn die Kafkasche Welt auf diesen der äußeren Wirklichkeit abgelauschten Realitätscharakter des realistischen Romans gänzlich verzichtet, so verzichtet sie vielleicht noch radikaler auf jenen der inneren Wirklichkeit abgelauschten Realitätscharakter des psychologischen |Arendt-III-001-00000139 Romans. Die Menschen, unter denen sich die Kafkaschen Helden bewegen, haben keine psychologischen Eigenschaften, weil sie außerhalb ihrer Rollen, außerhalb ihrer Stellungen und Berufe gar nicht existieren; und seine Helden haben keine psychologisch definierbaren Eigenschaften, weil sie von ihrem jeweiligen Vorhaben - dem Gewinnen eines Prozesses, der Erreichung von Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis und so weiter - vollkommen und bis zum Rande ihrer Seele ausgefüllt sind. | [absent] |
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[absent] | Diese eigenschaftslose Abstraktheit der Kafkaschen Menschen kann leicht verführen, sie für Exponenten von Ideen, für Repräsentanten von Meinungen zu halten, und alle zeitgenössischen Versuche, in das Kafkasche Werk eine Theologie hineinzuinterpretieren, hängen faktisch mit diesem Mißverständnis zusammen. Sieht man sich demgegenüber die Kafkasche Romanwelt unbefangen und ohne vorgefaßte Meinungen an, so wird schnell klar, daß seine Personen gar nicht die Zeit und gar nicht die Möglichkeit haben, individuelle Eigenschaften auszubilden. Wenn sich zum Beispiel in Amerika die Frage erhebt, ob der Oberportier des Hotels nicht vielleicht den Helden mit einer anderen Person versehentlich verwechselt hat, so lehnt der Portier diese Möglichkeit mit der Begründung ab, daß, könnte er Leute miteinander verwechseln, er ja nicht mehr Oberportier bleiben könne; sein Beruf besteht ja gerade darin, Menschen nicht miteinander zu verwechseln. Die Alternative ist ganz klar: entweder ist er ein Mensch, behaftet mit der Fehlbarkeit menschlicher Wahrnehmung und Erkenntnis, oder er ist ein Oberportier und hat dann zum mindesten eine Art übermenschlicher Vollkommenheit in dieser seiner Funktion zu prätendieren. Angestellte, die die Gesellschaft zwingt, mit der Präzision der Unfehlbarkeit zu arbeiten, werden darum noch nicht unfehlbar. Kafkas Beamte, Angestellte, Arbeiter und Funktionäre sind weit davon entfernt, unfehlbar zu sein; aber sie alle handeln unter der Voraussetzung einer übermenschlichen universal-kompetenten Tüchtigkeit. | [absent] |
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[absent] | Das Hauptthema der Kafkaschen Romane ist der Konflikt zwischen einer Welt, die in der Form einer solchen reibungslos funktionierenden Maschinerie dargestellt ist, und einem Helden, der versucht, sie zu zerstören. Diese Helden wiederum sind nicht einfach Menschen, wie wir ihnen täglich in der Welt begegnen, sondern variierende Modelle eines Menschen überhaupt, dessen einzig unterscheidende Qualität eine unbeirrbare Konzentration auf allgemeinst Menschliches ist. Seine Funktion in der Romanhandlung ist immer die gleiche: er entdeckt, daß die Welt und Gesellschaft der Normalität faktisch anormal sind, daß die Urteile der von allen akzeptierten Wohlanständigen faktisch verrückt sind, und daß die Handlungen, welche den Regeln dieses Spiels konform gehen, faktisch alle ruinieren. Der Antrieb der Kafkaschen Helden sind nicht irgendwelche revolutionäre Überzeugungen; er ist einzig und allein der gute Wille, der, fast ohne es zu wissen oder zu wollen, die geheimen Strukturen dieser Welt bloßlegt. | [absent] |
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Eines der Haupt-Themen der Erzählungen Kafkas ist der Aufbau dieser Apparatur, die Beschreibung ihrer glatten Arbeitsweise, und |Arendt-III-011-00000009 die Versuche seiner Helden, sie um der einfachen menschlichen Werte willen zu zerstören. Diese namenlosen Helden sind nicht gewöhnliche Menschen, wie man sie auf der | [absent] | Eines der Haupt-Themen der Erzählungen Kafkas ist der Aufbau dieser Apparatur, die Beschreibung ihrer glatten Arbeitsweise, und die Versuche seiner Helden, sie um der einfachen menschlichen Werte willen zu zerstören. Diese namenlosen Helden sind nicht gewöhnliche Menschen, wie man sie auf der |
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[absent] | Charakteristisch für diese abstrahierende und nur das Wesentliche bestehenlassende Kunst ist die folgende kleine Erzählung, die noch dazu von einer besonders einfachen und häufigen Begebenheit handelt: | [absent] |
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Eine alltägliche Verwirrung Ein alltäglicher Vorgang: sein Ertragen eine alltägliche Verwirrung. A hat mit B aus H ein wichtiges Geschäft abzuschließen. Er geht zur Vorbesprechung nach H, legt den Hin- und Herweg in je zehn Minuten zurück und rühmt sich zu Hause dieser besonderen Schnelligkeit. Am nächsten Tag geht er wieder nach H, diesmal zum endgültigen Geschäftsabschluß. Da dieser voraussichtlich mehrere Stunden erfordern wird, geht A sehr früh morgens fort. | Eine alltägliche Verwirrung Ein alltäglicher Vorgang: sein Ertragen eine alltägliche Verwirrung. A | [absent] |
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[absent] | Kafkas Konstruktionstechnik ist hier fast überdeutlich. Da sind erst einmal alle wesentlichen Faktoren, die gewöhnlich bei mißglückten Verabredungen ins Spiel kommen: Übereifer — A. geht zu früh fort und ist dennoch so hastig, daß er B. auf der Treppe übersieht; Ungeduld — A. wird der Weg ungeheuer lang, was zur Folge hat, daß er sich um den Weg mehr kümmert als um sein Ziel, |Arendt-III-001-00000144 nämlich B. zu treffen; Angst und Nervosität — was A. zu der unbedachten Überaktivität des Rückwegs verleitet, wo er doch ruhig die Rückkehr des B. hätte abwarten können; all dies bereitet schließlich jene wohl bekannte Tücke des Objekts vor, die vollkommenes Mißlingen immer begleitet, und das endgültige Zerfallen des Verärgerten mit der Welt überhaupt anzeigt und besiegelt. Aus diesen allgemeinen Faktoren, und nicht eigentlich aus dem Erlebnis eines spezifischen Ereignisses, konstruiert Kafka die Begebenheit. Da keine Wirklichkeit gleichsam mildernd der Konstruktion im Wege steht, können die einzelnen Elemente die ihnen innewohnende komisch-gigantische Größe annehmen, so daß auf den ersten Blick die Geschichte sich wie eine jener phantastischen Münchhausen-Geschichten liest, die Seeleute einander zu erzählen lieben. Der Eindruck der Übertreibung verschwindet erst, wenn wir die Geschichte nicht mehr als Report einer wirklichen Begebenheit lesen, nicht als den Bericht über irgend ein Ereignis, das durch Verwirrung zustande kam, sondern als das Modell der Verwirrung selbst, dessen grandiose Logik unsere eigenen begrenzten Erfahrungen mit verwirrten Ereignissen gleichsam verzweifelt nachzuahmen versuchen. Diese überaus kühne Umkehrung von Vorbild und Nachahmung, in der, einer jahrtausendalten Tradition zum Trotz, das Gedichtete plötzlich als Vorbild und die Realität als die zur Rechenschaft gezogene Nachahmung erscheint, ist eine der wesentlichen Quellen des Kafkaschen Humors und macht auch diese Geschichte so unbeschreiblich erheiternd, daß sie einen fast über alle bereits verfehlten und noch zu verfehlenden Verabredungen im Leben hinwegzutrösten vermag. Denn Kafkas Lachen ist ein unmittelbarer Ausdruck jener menschlichen Freiheit und Unbekümmertheit, die versteht, daß der Mensch mehr ist als sein Scheitern, schon weil er sich eine Verwirrung ausdenken kann, die verwirrter ist als alle wirkliche Konfusion. | [absent] |
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Die Technik scheint hier sehr klar zu sein. Alle wesentlichen Umstände, die zu der gewöhnlichen Erfahrung des Fehlschlagens einer Verabredung wie: Übereifer (wodurch A. zu früh fortgeht und B. auf der Treppe übersieht), falsche Konzentration auf Kleinigkeiten (A. denkt an die Reise anstatt an seinen Hauptzweck, B. zu treffen, was sie länger macht als damals, da er sie unaufmerksam zurücklegte) und endlich die typischen mutwilligen Streiche, zu denen sich Dinge und Umstände verschwören, um solches Mißlingen endgültig zu machen - sind in der Erzählung enthalten. Sie sind das Rohmaterial des Dichters. Weil seine Erzählung aus Faktoren, die zu typisch menschlichen Fehlschlägen beitragen, und nicht aus wirklichen Ereignissen bestehen, erscheinen sie zuerst als wilde und komische Übertreibung wirklicher Vorkommnisse oder wild gewordene, aber unentrinnbare Logik. Der Eindruck der Übertreibung verschwindet jedoch vollkommen, wenn wir die Geschichte als das, was sie wirklich ist, betrachten, nicht als Bericht über ein verwirrendes Ereignis, sondern als Urbild der Verwirrung selbst. Was bleibt, ist der Begriff der Verwirrung, derart dargestellt, daß es Gelächter hervorruft, eine humoristische Erregung, die gestattet, daß der Mensch seine wesenhafte Freiheit durch eine gewisse abgeklärte Überlegenheit über sein eigenes Mißlingen beweist. | [absent] | [absent] |
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Aus dem | Aus dem | Aus dem |
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Was Kafka so modern und | Was Kafka | Was Kafka so modern und |
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[absent] | 1 Mitgeteilt im Anhang der dritten Ausgabe des »Schlosses«, New York 1946. | [absent] |
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[absent] | 2 Die »geschichtsphilosophischen Thesen« sind das letzte Werk des Schriftstellers Walter Benjamin, der 1940 an der spanisch-französischen Grenze auf seinem Wege in die zweite Emigration nach Amerika in den Selbstmord getrieben wurde. | [absent] |